Alle Macht geht vom Volk aus. So steht's im Grundgesetz. Aber wie sieht es mit Volksentscheidungen aus? Ein Politologe und zwei Redakteure diskutieren.
Alle Welt spricht von Referenden, von Volksabstimmungen, die zum Beispiel darüber entscheiden sollen, ob ein Land in der EU verbleibt oder eben nicht. Warum das in Deutschland nicht möglich ist, erklärt Thomas Saalfeld, Inhaber des Lehrstuhls für Vergleichende Politikwissenschaft an der Universität
Bamberg.
Grundsätzlich hätten nach dem Zweiten Weltkrieg die Mitglieder des Parlamentarischen Rates bewusst die Entscheidung getroffen, plebiszitäre Elemente - dazu gehören auch Volksabstimmungen oder Referenden - nicht ins Grundgesetz aufzunehmen. Die Gründe seien leicht nachvollziehbar. "Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten angesichts der Erfahrungen in der Weimarer Republik nur wenig Vertrauen zu Parteien und zum Volk", so Saalfeld. Populisten von Links und Rechts hätten damals die junge Weimarer Demokratie aus den Angeln gehoben. Und das sollte sich in Deutschland nicht wiederholen. Aus diesem Grund seien Volksabstimmungen auf Bundesebene grundsätzlich nicht möglich. Das Grundgesetz gestatte nur eine Ausnahme. Dann nämlich, wenn es um eine Neugliederung des Bundesgebiets geht. In einem Referendum sieht Saalfeld grundsätzlich nicht das Maß der Dinge. Das zeigten auch die Erfahrungen in anderen Ländern. Beispiel Brexit: Auch hier hätte man populistischen Strömungen Vorschub geleistet und letztlich das Gegenteil von dem erreicht, was man erreichen wollte.
Ursächlich dafür sei auch, dass oft der Abstimmungsgegenstand mit anderen Fragestellungen vermischt sei, um zum Beispiel der Regierung einen Denkzettel zu verpassen. So handelte es sich auch beim Brexit um ein opportunistisch genutztes Instrument der Manipulation. Weil die politische Elite, in diesem Fall die britischen Konservativen, als eine zutiefst gespaltene Partei, zu einer eigenen Entscheidung nicht mehr in der Lage waren. Saalfeld sieht aber auch positive Beispiele für eine direkte Beteiligung des Volkes am politischen Entscheidungsprozess. So das Volksbegehren und den Volksentscheid in Bayern. Das sei sehr gut definiert, die Legislative behalte jederzeit die Initiative und der Volksentscheid könne hier sehr gut als Korrektiv gegenüber der Regierung wirken. Auch auf kommunaler Ebene könne die Form von Bürgerbegehren dafür sorgen, dass der Bürger bei Entscheidungen in seinem unmittelbaren Umfeld beteiligt wird.
Ein Mix also: Auf Bundesebene stehen die gewählten Politiker in der Pflicht, auf Länder- und kommunaler Ebene kann der Bürger direkt mitwirken. Muss sich der Deutsche dennoch benachteiligt fühlen, weil er anders als Franzosen oder Engländer auf der großen politischen Bühne nicht direkt mitbestimmen darf? Für Saalfeld ist das kein Nachteil, im Gegenteil. Das englische Beispiel belege ja klar, dass sich die Abstimmenden oft über die Tragweite ihrer Entscheidung gar nicht klar seien. Auf derlei Erfahrungen sollte man deshalb lieber verzichten.
Vertrauen statt Misstrauen - Ein Kommentar von Johannes Görz
Dem Volk sei nicht zu trauen, man müsse es vor sich selbst schützen - solche "Analysen" sind nach dem Brexit-Referendum zu hören. Diese Aussagen stimmen traurig, sind sie doch nicht weniger als die Abkehr von der Demokratie selbst. Denn wenn das Vertrauen in die Menschen fehlt, wie soll dann die "Herrschaft des Volkes" funktionieren? Wer dem Wähler hier nicht über den Weg traut, spricht auch der repräsentativen Demokratie die Lebenskraft ab. Der Fehler liegt nicht darin, Menschen Entscheidungen zu überlassen, sondern darin, wie sie zu diesen Entscheidungen kommen können. Wenn schon in der Schule Fächer wie Sozialkunde ein trauriges Nischendasein fristen und politische Debatten in den Medien meist nur um populistische Aufreger statt um Fakten kreisen, ist es kein Wunder, dass Menschen nur nach Bauchgefühl abstimmen.
Anstatt sich der zugegebenermaßen schwierigen und langwierigen Aufgabe zu stellen, den gesellschaftlichen Diskurs wieder zu einem vernünftigen Niveau zu verhelfen, zäumt man mit hektischen Misstrauensvoten gegen das Wahlvolk den Gaul von hinten auf . Das ist besonders dramatisch, weil Populismus und Uninformiertheit genauso bei repräsentativen Wahlen zum Tragen kommen.
Elitäre Faulheit schaufelt also auch das Grab der repräsentativen Demokratie.
Nein zu Populisten - Ein Kommentar von Klaus Angerstein
Es wäre völlig verkehrt, wollte man die Frage nach der Sinnhaftigkeit eines Referendums allein auf Begriffe wie Vertrauen oder Misstrauen reduzieren. Es geht um mehr.
Unter anderem um Kompetenz. Von keinerlei Sachkenntnis getrübte Entscheidungen können wir uns angesichts einer immer komplexer werdenden Welt schlicht nicht leisten. Man muss deshalb gar nicht erst die Vergangenheit bemühen, um zu dem Ergebnis zu kommen, dass politisch weitreichende Entscheidungen zuallererst von denen getroffen werden sollten, die zu diesem Zweck gewählt wurden. Von unseren Politikern.
Womit ich nicht gesagt haben will, dass Politiker per se über die nötige Sachkenntnis verfügen. Aber immerhin steht ihnen ein Beraterapparat und ein wissenschaftlicher Dienst zur Verfügung, der die Wahrscheinlichkeit einer sachgerechten Entscheidung größer erscheinen lässt als bei einem Referendum. Das dient oft genug nur der Befriedigung persönlicher Eitelkeiten politischer Hasardeure, die Stimmungen geschickt für sich auszunutzen wissen. Populisten, Demagogen reinsten Wassers eben. Nicht viel besser sind Politiker wie ein Horst Seehofer, der mit seiner Forderung nach mehr Volksentscheiden auch nur auf Wählerstimmen schielt.
Wenn Politiker nicht mehr entscheiden wollen, dann brauchen wir keine.