Auch Kubis und Schneider gehen von einer gravierenden Lücke bei der Zahl der Arbeitskräfte aus. Von derzeit 46,4 Millionen sinkt deren Zahl bis 2040 auf 41,9 Millionen und bis 2060 auf 35,1 Millionen. In Summe fehlen also 2040 knapp sieben Millionen Arbeitsangebote auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das Institut der deutschen Wirtschaft geht von einem noch höheren Ersatzbedarf aus: Fast 20 Millionen Erwerbstätige erreichen danach bis 2036 das Renteneintrittsalter und nur 12,5 Millionen Nachwuchs stehen zur Verfügung, haben die Statistiker in Köln errechnet.
Doppelstrategie gegen den Mangel an Arbeitskräften
Natürlich ist es ein gewaltiger Unterschied, ob die Arbeitskräftelücke in den nächsten 10 bis 15 Jahren bei vier, sieben oder neun Millionen liegt. Aber egal, wer die nächste Regierung stellt: Zu einem der dringendsten Probleme gehört es, die Auswirkungen des demografischen Wandels in Deutschland umfassend anzupacken. Kubis und Schneider vermuten sogar, falls Deutschland die Lücke nicht schließen kann, dürften Betriebe zu entsprechenden "Anpassungsmaßnahmen" greifen. Etwa zu einer verstärkten Automatisierung oder zu Standortverlagerungen.
So unterschiedlich die Ausgangszahlen sind, bei den Maßnahmen sind sich die drei Gutachten einig. Die Wissenschaftler schlagen eine Doppelstrategie vor: Hebung der unausgeschöpften Potenziale im Inland und eine gezielte arbeitsmarktorientierte Zuwanderung.
Das "unausgeschöpfte Potenzial an Arbeitskräften in Deutschland" ist groß. Es liegt bei 6,7 Millionen, schätzt der wissenschaftliche Beraterkreis beim Wirtschaftsministerium. Gutachter Kubis und Schneider setzen in ihrem Gutachten zusätzlich auf arbeitsmarktorientierte Zuwanderung von 290.000 Personen und das jedes Jahr bis 2040.
Höhere Erwerbstätigkeit von Frauen und Rente mit 70
Zunächst der Blick auf die Potenziale im Inland. Höhere Erwerbsquoten bei Frauen und Älteren können dabei helfen, das Arbeitskräftepotenzial zu steigern. Allerdings sind die Erwerbsquoten bei den Frauen und Älteren in Deutschland mittlerweile im internationalen Vergleich schon sehr hoch, sodass nur noch ein begrenzter Spielraum nach oben besteht.
Bereits 90 % der 35- bis 49-jährigen Frauen mit deutscher Nationalität sind derzeit Teil des Erwerbspersonenpotenzials, stehen also dem Arbeitsmarkt prinzipiell zur Verfügung. Nach IAB-Prognosen werden es bis zum Jahr 2060 sogar fast 97 % sein. Unter diesen Umständen könnte das Erwerbspersonenpotenzial, so die Erwartung von Kubis und Schneider, bis 2060 um drei Millionen Arbeitskräfte weniger stark sinken. Wenn es gelänge, die Quote der Teilzeitbeschäftigten zu senken und mehr Frauen und Betriebe zur Vollzeitbeschäftigung zu bewegen, wäre das Potenzial noch größer.
Auch die "Rente mit 70" ist eine weitere Möglichkeit, die Erwerbsbeteiligung zu steigern und damit die Demografiekräftelücke zu verkleinern. Unabhängig von der Frage, ob diese Möglichkeiten realistisch sind, ist das zusätzliche Potenzial, das sich dadurch ausschöpfen lässt, begrenzt: Es summiert sich nach Berechnungen des IAB auf maximal 3,2 Millionen weitere Erwerbspersonen.
Nachqualifizierung stößt an Grenzen
Ein weiterer Hebel zur Steigerung des Fachkräftepotenzials besteht darin, Menschen ohne schulische oder berufliche Ausbildung zu qualifizieren. Geringqualifizierte haben es nach wie vor schwer am deutschen Arbeitsmarkt.
So lag die Arbeitslosenquote der Personen ohne Berufsabschluss bei knapp 20 %. Es steht also ein Angebot an potenziellen Arbeitskräften zur Verfügung, ohne dass es für sie immer das passende Stellenangebot mit eher geringen Qualifikationsanforderungen gibt.
So richtig die Idee der Nachqualifizierung ist – auch sie stößt an Grenzen. Das Gros der Geringqualifizierten ist aus unterschiedlichen Gründen nur bedingt zur Weiterbildung bereit. So ist es wenig realistisch, einen Arbeiter beispielsweise zum Ingenieur zu qualifizieren. Auch Faktoren wie Alter, Gesundheitszustand oder Sprachdefizite erweisen sich als Hemmschuhe.
Arbeitsmarktorientierte Zuwanderung ist unverzichtbar
Weil inländische Potenziale Grenzen haben, benötigt Deutschland, nach Auffassung aller Gutachten, qualifizierte Zuwanderung. Um das Erwerbspersonenpotenzial in den kommenden Jahrzehnten auf dem heutigen Niveau zu halten, wäre im Schnitt eine jährliche Nettozuwanderung von mindestens 300.000 Personen erforderlich. Das sind ungefähr doppelt so viele Zuzüge jährlich wie im Durchschnitt der vergangenen Jahrzehnte.
Bei der Zuwanderung aus dem Ausland unterscheiden die Autoren zwischen einer Binnenwanderung aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) und einer Migration aus Drittstaaten. Für Migranten aus EU-Ländern gilt grundsätzlich die Freizügigkeit innerhalb der EU, für Angehörige von Drittstaaten müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein.
Den Schätzungen nach ist mit den hohen Nettozuzügen aus süd-, ost- und südosteuropäischen EU-Staaten von derzeit jährlich rund 300.000 Personen in Zukunft nicht mehr zu rechnen, sie gehen deutlich zurück. Gründe dafür sind die ökonomischen Aufholprozesse zwischen den neuen und den alten Mitgliedsstaaten. Nicht nur in Deutschland, sondern in der EU insgesamt sinkt der Anteil der wanderungsaffinen jungen Bevölkerung. Die Zuwanderung nach Deutschland wird sich deshalb abschwächen.
Der Zuzug aus Drittstaaten birgt Potenzial
In den letzten 25 Jahren gab es in Schüben immer wieder Zuwanderer aus Kriegs- und Krisenregionen. Die Erfahrungen zeigen, ihre berufliche Qualifikation passt oft nicht zum betrieblichen Bedarf in Deutschland. Trotzdem ergibt sich daraus ein Bestand an Personen, die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehen. Die erforderlichen Qualifikations- und Integrationsanstrengungen sind jedoch ungleich höher als bei einer Zuwanderung aus starken, stabilen Industrieländern.
Zuwanderung aus Drittstaaten, die gezielt aus beruflichen Gründen kommen, spielt hierzulande bislang nur eine untergeordnete Rolle: Sie machte im Jahr 2016 nur 8,5 % der Zuzüge aus Drittstaaten aus. Weitere 8,3 % erfolgten wegen eines Studiums oder einer Ausbildung (einschließlich Schulbesuch und Sprachkurs). Der Wanderungsüberschuss für beide Gruppen belief sich in diesem Jahr auf rund 82.000 Personen. Im Fragment der Absolventen gibt es also durchaus ein beachtliches Potenzial, um den langfristigen Fachkräftebedarf zu decken. Bisher gelingt es aber nur unzureichend, diese an deutschen Arbeitsmarkt zu binden.
Davon zu unterscheiden ist die Fluchtmigration, die in ihrer künftigen Größenordnung nicht abzuschätzen ist. "Im Übrigen ist diese Form der Zuwanderung in allererster Linie humanitärer Natur und gerade nicht arbeitsmarktorientiert", schreiben Kubis und Schneider.
Deutschland muss attraktiver sein für qualifizierte Fachkräfte
Mit dem Fachkäftezuwanderungsgesetz hat die geplatzte Ampel ein neues Instrument der Zuwanderung geschaffen. Im Jahr 2023 zogen 72.000 Arbeitskräfte (darunter 41.000 Fachkräfte) aus Drittstaaten (mit einem erwerbsorientierten Aufenthaltstitel) nach Deutschland – dem stehen freilich circa 20.000 Abwandernde gegenüber, sodass sich eine Nettozuwanderung in der Größenordnung von rund 50.000 Personen ergibt. Angesichts der notwendigen Zuwanderung gemäß der Analyse von Bubis und Schneider von rund 300.000 Personen wirkt das Gesetz nicht ausreichend.
Es bleibt die Aufgabe bestehen, auch die nicht arbeitsmarktorientierte Zuwanderung (immerhin im Jahr 2023 rund 1,9 Zuzüge und 1,3 Millionen Fortzüge) für den deutschen Arbeitsmarkt nutzbar zu machen. Insgesamt plädiert die Studie für die Bertelsmann-Stiftung dafür, die Erwerbspotenziale der Zuwanderung insgesamt stärker auszuschöpfen.
Die Erwerbsmigration ist eine Chance, die demografischen Probleme auf dem Arbeitsmarkt besser in den Griff zu bekommen. Schließlich kommen die meisten erwerbsorientierten Migranten mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche nach Deutschland. Trotzdem muss Deutschland als Zielland für ausländische Fachkräfte noch deutlich attraktiver werden.
Vorschaubild: © Best/AdobeStock