Corona verhinderte seit Herbst Veranstaltungen aller Art. Doch das Colloquium Historicum Wirsbergense bietet fast wöchentlich Online-Vorträge an. Manchmal schauen Hunderte zu! Auch Harald Stark hat die Alternative schätzen gelernt.
Harald Stark ist es eigentlich gewohnt, vor aufmerksamen Zuhörern zu referieren. In Gesichter zu schauen, wenn er als Kastellan der Plassenburg deren Historie aufzeigt, in der er wie kaum ein anderer bewandert ist. Beim jüngsten Abriss über Kulmbachs Wahrzeichen in alten Ansichten war das anders. Und auch am Donnerstagabend, als er eine alte Stadtansicht aus der Zeit um 1650 aus dem Fundus des Landschaftsmuseums Obermain zum Anlass nahm, entlang dieser Aufnahme auf die bewegte Geschichte einzelner Gebäude einzugehen, tat er das vor "leeren" Rängen. Trotzdem lauschten weit über 100 Interessierte. Wie viele genau, wusste Harald Stark nicht, denn sein Publikum saß nicht leibhaftig vor ihm, sondern war versammelt in Wohn- oder Arbeitszimmern. Zusammengekommen sind Redner und Zuhörer im virtuellen Raum.
Der Grund: Das Colloquium Historicum Wirsbergense (CHW) bietet seine Vorträge seit Dezember online an - und das mit großem Erfolg. Unter 100 zugeschalteten Geräten bleibt selten ein Vortrag - "und da sitzen erfahrungsgemäß anderthalb Leute dahinter", sagt Günter Dippold, der Vorsitzende des CHW. Er hat im Dezember einfach mal angefangen mit den Online-Vorträgen. Erfahrung mit diesem Format hatte er: Als Professor an der Uni Bamberg muss der Bezirksheimatpfleger und Historiker auch "gegen den Bildschirm reden", wie er es nennt. Also wagte er den Versuch. 45 Computer waren beim ersten Vortrag zugeschaltet. Das ermutigte ihn. Bald waren es 100, "und irgendwann noch mehr".
Spitzenreiter war bislang der Vortrag über das Ende des Zweiten Weltkriegs in Bamberg, den der Bamberger Stadtarchivar Horst Gehringer mit Filmaufnahmen vom Vorrücken der US-Army auf die Domstadt anreichern konnte. 476 zugeschaltete Geräte. "Da kam unsere Zoom-Lizenz an ihre Grenzen", sagt Dippold. Nach seiner Rechnung bedeuten 476 Geräte rund 700 Zuschauer, "und damit wird in Kulmbach die Stadthalle knapp". Von solcher Resonanz können Historiker sonst nur träumen, sagt auch Horst Gehringer, der selbstredend nicht nur beim CHW Mitglied ist, sondern auch beim Historischen Verein Bamberg. Auch dort finden die Vorträge inzwischen online statt, mit 30 bis 75 Zuschaltungen, wie Gehringer sagt.
Vereinsleben aufrechterhalten
Gehringer sieht in den Online-Vorträgen auch eine Überlebensstrategie für historische Vereine wie den Bamberger oder das CHW. Denn das Vereinsleben selbst bestehe hauptsächlich aus dem Vortragsangebot, sagt er. Beim CHW bieten die 19 Bezirksgruppen ihre Vorträge normalerweise vor Ort an - "um die 75 zwischen Dezember und April", bestätigt Dippold. Nur: Meist wird für diese Vorträge nur regional geworben. Für die rund 50 Online-Veranstaltungen dieser Saison wirbt das CHW nun oberfranken- und weltweit über seine Homepage oder den Facebook-Auftritt. "Wir hatten bei einem Vortrag Gäste aus vier Kontinenten", erzählt Dippold. "Einer saß in Benin, einer in Bolivien, einer in Pennsylvania." Die Europäer - "Franken, Exilfranken, Frankensympathisanten" - sind ohnehin dabei. "Aus Sachsen oder Bremen wäre doch nie einer hergefahren."
Corona hat die Entwicklung beschleunigt, die Dippold schon lange hat kommen sehen. "Ich habe immer gesagt: Wir müssten, wir sollerten, könnerten a weng mehr im Internet mach'", bekundet er unüberhörbar fränkisch. "Ohne Corona wären wir in dieser behaglichen Atmosphäre des Konjunktivs geblieben." So aber können die Zuhörer nicht nur die Vorträge live verfolgen und hinterher Fragen stellen oder diskutieren, sie können die Vorträge auch nachträglich noch ansehen - wenn dann freilich ohne Fragerunde. Die wird weggeschnitten, unter anderem aus Datenschutzgründen. "Außerdem sollen live Zuhörende auch einen Vorteil haben", sagt Dippold.
Auch die Viertelstunde vor Vortragsbeginn fällt beim Video weg. Die nutzen viele regelmäßige Nutzer "zum Leerwaafen", wie Dippold sagt. "Grad schee is'." Da werden Tipps fürs Sockenstricken ausgetauscht oder nach dem Befinden der Katze gefragt, die bei einer Zuhörerin immer wieder mal im Bild erscheint. "Es hat so etwas völlig Schwellenloses", schwärmt der CHW-Vorsitzende, der sich selbst zwar mit einer alten Stehlampe am Laptop ins rechte Licht setzt, aber das Ganze ansonsten recht entspannt sieht, wenn es mal technisch hakt. Da durfte jüngst ein Referent seine erste Vortragsminute am Ende noch mal sprechen, damit auch ja alles aufgezeichnet ist. "Es muss nicht alles perfekt sein. Wir haben eh eine Welt, wo alles so gelackt und perfektioniert ist. Dann ist der Ton halt verständlich, aber kein Dolby-Surround. Oder der Einspieler kommt ein paar Sekunden später. Ich hab da inzwischen Gelassenheit gelernt. Das ist die beginnende Altersweisheit." Dippold wird heuer 60.
Versprechen: Online bleibt
Alter ist bei den Online-Vorträgen kein Hindernis, eher im Gegenteil: Gerade das ältere Publikum nehme das Angebot dankbar an, hat Dippold beobachtet. Nicht nur, dass die Zoom-Vorträge Zusammenkünfte trotz Ausgangssperre ermöglichen. Viele wollen abends nicht extra noch zu einem Vortrag fahren, gerade im Winter. Und: Aus einem Online-Vortrag lässt sich jederzeit aussteigen, wenn das Thema nicht interessiert. Aufstehen und unter den Blicken aller einen Saal zu verlassen, fällt da schon schwerer. Daher geht Dippold davon aus, dass das Online-Angebot bleiben wird.
"Das würde ich begrüßen", sagt auch Harald Stark. "Eine solche Resonanz bekommt man bei einem Vortrag vor Ort, etwa in einem Saal, selten bis nie. Gerade in Zeiten von Corona - und wann die enden weiß keiner genau - wären solche Menschenmengen auf einem Fleck ja gar nicht möglich. Die Alternative wäre: Ohne Online fände gar nichts statt. Insofern bin ich dankbar für die Chance. Das ist unter den aktuellen Umständen eine sehr gute Lösung und sollte beibehalten werden, auch wenn wieder Präsenzveranstaltungen möglich sind." Dann kann Harald Stark auch wieder in Gesichter blicken. "Es wird schön werden, wenn man sich wieder persönlich begegnet, keine Frage. Dieses soziale Interagieren ist ein ganz anderes Feeling."
Verein Das Colloquium Historicum Wirsbergense, kurz CHW, 1924 in Wirsberg gegründet, gehört nach eigenen Angaben mit fast 1700 Mitgliedern zu den großen fränkischen Geschichtsvereinen. An über 30 Orten veranstaltet das CHW alljährlich rund 100 Vorträge und Exkursionen. Ferner bringt das CHW Schriften zur fränkischen Geschichte heraus. Organisiert werden die Vorträge in der Regel von den 19 Bezirksgruppen zwischen Sonneberg und Hollfeld, Münchberg und Ebersdorf.
Programm Durch die Umstellung auf Online-Vorträge plane er derzeit auf Sicht, sagt Dippold. Pro Monat werden vier bis fünf Vorträge angeboten.
Online-Zugänge Das CHW informiert über die Vortragstermine auf seiner Homepage www.chw-franken.de, seiner Facebook-Seite, per Newsletter und über die Tageszeitungen. Die Zugangsdaten zu den Vorträgen finden sich auf der Homepage und müssen von dort kopiert werden. Das sei technisch derzeit nicht anders möglich, sagt Dippold. Die Homepage soll überarbeitet werden. Direkte Links werden nur auf der Facebook-Seite eingestellt.
Termine Die nächsten Vorträge befassen sich mit dem Thüringer Rennsteig als Kulturdenkmal ("Möblierte Landschaft", heute, Samstag, 19 Uhr) und der vorgeschichtlichen Höhensiedlung auf dem Festungsberg und dem Fürwitz in Coburg (Donnerstag, 17. Juni, 19.30 Uhr). Die Zugangsdaten sind jeweils unter "Programm" auf der Homepage www.chw-franken.de zu finden.sb