Studierende der Hochschule für angewandte Wissenschaften München haben die Voraussetzungen für einen Rettungseinsatz nach einem Zugunglück analysiert.
Die ersten fünf Minuten nach der Alarmierung - das ist für Daniel Scherer, Philipp Laumer und Jakob Lobensteiner die zentrale Erkenntnis ihrer Projektarbeit an der Hochschule für angewandte Wissenschaften in München - sind entscheidend, wenn auf der ICE-Neubaustrecke wirklich ein schweres Unglück geschehen sollte. "Da muss alles funktionieren", sagte Scherer gestern bei der Vorstellung der Arbeit über die Herausforderungen für die Rettungsdienste bei Einsätzen entlang der Hochgeschwindigkeitsstrecke.
Die Studierenden haben bei ihrer Arbeit den Extremfall angenommen: ein Unfall mit zwei voll besetzten ICE-Zügen bei Weißenbrunn am Forst. Die Erfahrungen aus dem Katastrophenschutz führen zur Annahme, dass es dabei knapp 1000 Verletzte, davon fast 300 mit sofortigem Behandlungsbedarf, geben dürfte. Eine Menge, da waren sich gestern die Vertreter der Rettungsdienste im Coburger Land bei der Projektvorstellung im Landratsamt einig, die regional nie und nimmer zu bewältigen ist. Aber eine Grundlage für die künftige Alarmierungsplanung ist sie allemal.
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Einen Plan, welche Zufahrten, Stellplätze und freie Flächen entlang der Neubaustrecke auf bayerischem Gebiet zur Verfügung stehen, gibt es (noch) nicht. Und es wird auch noch ein bisschen dauern, bis er da ist, erklärte Hans Ellmayer. Der ist Ministerialrat im bayerischen Innenministerium und hat die Projektarbeit initiiert. "Ein paar Monate werden dafür nicht ausreichen", machte Ellmayer deutlich - verbunden mit der Einschränkung, dass man ohnehin nicht alle Variablen bei der Planung berücksichtigen könne. Manfred Lorenz stand kopfnickend daneben. "Die Idealplanung wird an fehlenden Kapazitäten scheitern", erklärte der Kreisbrandrat und riet, sich auch künftig "auf das Wesentliche" zu beschränken. Denn eines, so hart das klinge, müsse nach Ansicht des Kreisbrandrats klar sein: "Wir müssen damit rechnen, dass man nicht jedem Opfer helfen kann."
Kapazitäten reichen nicht aus
An der Tatsache, dass es zur Neubaustrecke eine Bestandsaufnahme für die Hilfsorganisationen braucht, wird man in den Landkreisen Coburg und Lichtenfels nicht vorbei kommen. Das sei zweifelsohne Sache des Katastrophenschutzes, räumte Manfred Lorenz ein und verwies auf die Tunnel-Bauwerke. Für die, in Bayern wie in Thüringen, gibt es länderübergreifende Einsatzkonzepte. In reduzierter Form werde es die irgendwann einmal für Brücken und die freie Strecke der ICE-Trasse auch brauchen. Hans Ellmayer, der schon zahllose ähnliche Projekte begleitet hat, verhehlte nicht: "Der Planungsaufwand ist extrem." Kein Wunder, bei 27 Tunnel- und 37 Brückenbauwerken auf der Neubaustrecke.
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Die Arbeit der drei Studierenden gab den Spezialisten der Rettungs- und Hilfsdienste einige neue Denkansätze an die Hand - unter anderem die Erkenntnis, dass schon die bloße Verkehrsregelung für Einsatzfahrzeuge entscheidend für Erfolg oder Misserfolg eines Rettungseinsatzes sein kann. "Die Einsatzkräfte müssen schnell zum Unglücksort hinkommen - das ist das A und O", sagte Dr. Sven Schultheiß, der Leiter der Bundespolizeiinspektion Würzburg.
Aber es blieb auch die Erkenntnis: Sollte es auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke einmal richtig "knallen", wird das ein Hororszenario. Volker Drexler-Löffler, Einsatzleiter beim Bayerischen Roten Kreuz, gab sich auch nach der Präsentation keinen Illusionen hin: "Die Menschenrettung wird ein Riesenproblem, weil wir die nötigen Ressourcen niemals zur Verfügung haben werden."
Völlig blank steht der Freistaat Bayern natürlich nicht da, was Rettungskonzepte entlang von ICE-Strecken angeht. Hans Ellmayer berichtete von ähnlichen Bestandsaufnahmen zwischen Nürnberg und München oder südlich von Fulda. Das schwere Zugunglück vor 20 Jahren in Eschede mit über 100 Toten sei da schmerz- und lehrreich gleichermaßen gewesen, ergänzte Sven Schultheiß. Gerade was die Zugtechnik angehe, habe es seitdem große Fortschritte gegeben.
Ein Satz von Daniel Scherer hinterließ bei den zahlreich anwesenden Vertretern aus dem Bereich der öffentlichen Sicherheit bleibenden Eindruck: "Auffällig ist die geringe Dichte an Krankenhäusern - zumindest von unserer Sicht aus München aus." Ansonsten wurden Scherer und seine zwei Kollegen von der Aufgabenstellung im Coburger Land nicht überrascht. Als auffällig blieb Jakob Lobensteiner von der Streckenbesichtigung im vergangenen November in Erinnerung, dass lange Teile der Neubaustrecke überhaupt nicht oder nur sehr schwer über private Forstwege zu erreichen sind. Das werde bei einem Unfall zwangsläufig zu Problemen führen.
Der Zug ist schon sicher
Aus dem von den Studierenden entwickelten Horrorszenario des Mega-Unfalls zu schließen, dass die ICE-Strecke unsicher sein könnte, ist nach Aussage von Hans Ellmayer eine völlig falsche Schlussfolgerung. Der Ministerialrat hat Vertrauen in die Sicherheit bei der Bahn: "Wir sind mit dem Zug gekommen und fahren auch wieder mit ihm heim."