Kirill Petrenko, das Staatsorchester und großartige Solisten brillieren in einer "Salome"-Inszenierung, die das Publikum aber spaltet. Für das Regieteam gab es bei der Premiere im Nationaltheater heftige Buhrufe.
Gleich zwei aktuelle Publikationen der Bayerischen Staatsoper sollte man lesen, bevor man die Neuinszenierung der 1906 uraufgeführten "Salome" von Richard Strauss besucht: Denn ohne die Befragung von Krzysztof Warlikowski und dem Zwiegespräch des Regisseurs mit jenem Kollegen, der die zweite Großproduktion der Münchner Opernfestspiele besorgt, würde einem einiges an Erkenntnissen entgehen.
Klingt nicht gerade ermutigend. Normalerweise gilt: Eine Interpretation sollte für sich sprechen und ohne Gebrauchsanweisung verstanden werden. Für Warlikowskis vierte Arbeit am Nationaltheater sei eine Ausnahme gemacht, weil dieser sperrige Abend einen auf unerwartete Weise packt, gründlich aufräumt mit einschlägigen Klischees, neue Assoziationsräume öffnet und Denkanstöße gibt, die lange nachhallen.
Kollektiver Selbstmord
Warum einfach, wenn es kompliziert geht? Die Inszenierung beginnt mit einem zusätzlichen szenischen Prolog und Gustav Mahlers Kindertotenlied Nr. 1 vom Band. Die in einer herrschaftlichen Bibliothek (Ausstattung: Malgorzata Szczeniak) versammelte Gesellschaft führt sich eine Kabarettszene vor, bevor als nächstes Spiel im Spiel die "Salome"-Handlung anhebt.
Das verzerrende Kabarett, über das sich ein Teil der Protagonisten amüsiert und ein anderer empört, will zeigen, dass diese Menschen assimilierte Juden in den frühen 1940er Jahren sind, die sich vor den Nazis versteckt haben. Am Ende, wenn sie entdeckt worden sind, begehen alle kollektiven Selbstmord. Hier herrscht also nicht nur, was Narraboth, Jochanaan und Salome betrifft, Todesnähe.
Anders als in der biblischen Vorlage und im Libretto Oscar Wildes sind alle Figuren bedroht, befinden sich im Ausnahmezustand. So übernimmt der Rabbi der Zwangsgemeinschaft eher ungern die Rolle des Herodes, so spielt eine junge Frau den Pagen als eine zwischen Angststarre und nekrophilem Ausbruch unglücklich Liebende. Und das Judenquintett gewinnt eine andere Bedeutung, wenn es in eine Art Abendmahlszene mündet.
Salome ist eine erwachsene, elegante, selbstbewusste Frau in Rot - eine kühle Schönheit mit Entwicklung. Die stupende Sängerdarstellerin Marlis Petersen macht die Brüche ihrer Figur(en) spürbar, ist auf der einen Ebene ein feinnervig-stolzes Opfer, das auf der zweiten Ebene umso klarer merkt, wie das Produkt missratener Eltern allmählich vom Opfer zur Täterin mutiert.
Blutgetränkter Stoff
Nein, sie braucht keine Silberschüssel mit abgeschlagenem Kopf, um das Drama zu vollenden: Eine Kiste mit blutgetränktem Stoff genügt, um alle Sehnsucht, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, das Entsetzen und den Schmerz an untilgbarer Schuld zu offenbaren. Schade nur, dass sich der Anspielungsreichtum und die Tiefe der szenischen Einfälle dem Publikum zu selten direkt mitteilen.