"Zuhause in Syrien hätte mich mein Vater hart dafür bestraft"
Vatan wehrte sich nicht. Er zeigte es nicht an, er schüttete Anneliese Zimmer sein Herz aus, die ihn tröstete. Und dann ging er Tage später an den Berliner Platz, zu "deutschen Jugendlichen, die dort immer sind", sagt Vatan. Von ihnen kaufte er sich ein Butterfly-Messer für 15 Euro. Eins mit einer zu langen Klinge, um noch erlaubt zu sein. "Ich dachte, wenn ich das nächste Mal in einer solchen Situation bin, dann zeige ich das Messer und dann verprügelt mich keiner."
Vom Messer erzählt er Anneliese Zimmer nichts. Nicht nur, dass er weiß, dass es verboten ist - es ist ihm dazu noch "peinlich", so drückt er es aus. "Zuhause in Syrien hätte mich mein Vater hart dafür bestraft, wenn er mich mit einem Messer erwischt hätte." Doch fortan trägt er es bei sich, "wenn ich nachts lange unterwegs bin".
Der Tatabend in Bad Kissingen
Wie am Freitag vergangener Woche. Mit zwei deutschen Freunden ist er im Look, der Disco in Bad Kissingen. Vatan, der von sich sagt, nichts zu vertragen, trinkt Wodka-Mischungen, später werden bei ihm 0,6 Promille gemessen. Anneliese Zimmer: "Auch das macht mich so sauer. Seine Freunde hatten eine Verantwortung für ihn, sie müssen doch wissen, dass er sich nichts zu Schulden kommen lassen darf - und dass Alkohol enthemmt." Anneliese Zimmer weiß selbst, dass sie bei Vatan andere Maßstäbe als bei einem deutschen Jugendlichen anlegt; dass sie viel zu streng ist; ihr Vatan darf eben nicht wie andere mal über die Stränge schlagen.
Nur eine Zigarette rauchen: Plötzlich geht alles ganz schnell
Vatan will raus zum Rauchen, im schmalen Gang stellt sich ihm einer entgegen. Der weicht keinen Millimeter. Vatan: "Ich hab zu ihm gesagt: Hey, mach mal Platz, ich will nur vorbei." Es kommt zum Schulterrempler. "Ich will keinen Stress", habe er gesagt, erzählt Vatan. Im Raucherbereich beobachtet er, wie der Rempler mit zwei oder drei anderen zusammensteht, wie über ihn geredet wird.
"Ich hatte Angst, dass etwas in der Disco passiert und ich wollte kein Hausverbot kassieren." Lasst es uns draußen klären, habe er zu den Gegnern gesagt. Mit seinen Freunden ging er raus auf den Parkplatz. "Ich habe gedacht, wir können das mit Worten klären."
Vatan: "Dann hatte ich das Messer in der Hand"
Plötzlich wurden aus den drei mindestens zehn, "und alle sind auf einmal auf mich losgegangen". Es soll gut auf dem Überwachungsvideo der Disco zu erkennen sein. Enrico Ball, Sprecher des Polizeipräsidiums in Würzburg: "Eine größere Gruppe geht auf eine kleinere Gruppe los." Wer allerdings im Einzelnen wann wen geschlagen hat, müsse noch ermittelt werden - und dazu werden dringend unabhängige Zeugen gesucht.
Vatan sagt, er sei verprügelt und getreten worden. "Meine Brille flog weg, der Pullover war zerrissen, ich habe noch Schürfwunden und blaue Flecken an Armen, Beinen, Schultern. Dann hatte ich das Messer in der Hand. Ich bin nicht auf sie losgegangen, ich wollte, dass sie Angst haben und aufhören. Aber die sind weiter auf mich losgegangen." Als die Security kommt, hat ein 16-Jähriger, der zu der Gruppe des Remplers gehörte, mehrere Stiche im Oberkörper. Zunächst galt er als schwer verletzt, er konnte aber am nächsten Tag bereits das Krankenhaus verlassen.
Auch Vatan hat Stichwunden an der Hand, woher die kommen, ist noch nicht geklärt. Am Montag nach der Tag ging er mit Anneliese Zimmer zur Polizei und machte eine umfängliche Aussage. Das Opfer, der 16-Jährige, hat von seinem Recht Gebrauch gemacht, sich nicht zu äußern.
Vatan: "Das Messer ist nicht zu entschuldigen. Ich hätte das nicht tun dürfen. Der 16-Jährige wollte einfach nur seinen Freund unterstützen. Es tut mir sehr leid, was passiert ist." Anneliese Zimmer hat versucht, Kontakt zur Familie aufzunehmen, doch bislang keine Reaktion erhalten. Dass gegen ihren Vorzeigeschützling jetzt die Kripo ermittelt, erschüttert sie.
"Alle, aber nicht Vatan, habe ich mir immer gedacht." Vatan hat seinem Vater noch nichts erzählt. "Ich kann es ihm erst sagen, wenn ich weiß, was mich erwartet. Es wird furchtbar für ihn. Zuhause hätte er mich für so etwas erschlagen."
Vorurteile wegen seiner Herkunft
In sozialen Netzwerken wie Facebook wird Vatan beschimpft, verurteilt. "Es steht überall, dass es ja klar war, dass ich so etwas getan habe, nur, weil ich Syrer bin. Ich habe einen großen Fehler gemacht, aber ich bin kein Gangster. Und nicht alle Syrer sind Messerstecher. Das war ich, Vatan, der Gymnasiast, der FOS-Schüler, der, der später einen sozialen Beruf lernen möchte, ich, Vatan, der von meinen Eltern dazu erzogen wurde, für andere da zu sein. Ich will nichts beschönigen. Aber ich bin mehr als die Vorurteile, die so viel gegen Flüchtlinge haben."
Vatan sagt, er habe in der vergangenen Woche kaum geschlafen. Vernehmungen bei der Kripo, das schlechte Gewissen, die Angst vor seiner Zukunft und ob er die überhaupt noch in Deutschland hat, lassen ihn nicht zur Ruhe kommen.
Während Vatan wartet, was jetzt passiert, hat sich ein paar Tage nach der Tat folgendes vor der Disco zugetragen: Eine Gruppe junger Männer hat sich auf dem Parkplatz, dem Tatort, getroffen. Sie standen zusammen, redeten, schauten in die Überwachungskamera, wechselten ihre Plätze, begutachteten wieder die Überwachungskamera. Was die Jungs nicht wussten: Ein Mitarbeiter der Disco beobachtete sie. Es war die Gang rund um den Rempler. "Es sah so aus, als würden sie die Prügelei zu Absprachezwecken nachstellen wollen", sagt Christian Metz, Geschäftsführer der Disco. Durch einen Zufall kam eine Zivilstreife vorbei, die ebenfalls auf die Gruppe aufmerksam geworden war. Die Polizei nahm alle Personalien auf. *Namen geändert
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