Geradezu gruselig aktuell: Das Staatstheater Nürnberg punktet mit der Oper "Anna Nicole" über den Aufstieg und Fall eines schrillen "Busenwunders".
Titten, Titten, Titten, übergroße, monströse Titten. Und dazu eine sehr direkte, prollige, schmutzige Sprache, bei der einem - ob nun auf Englisch im O-Ton oder auf Deutsch in den Übertiteln - das Hören und Sehen vergeht. Soll sich das bildungsbürgerliche Opernpublikum in diesen unseren #MeToo-Zeiten freiwillig so was geben? Es sollte.
Denn was die auch musikalisch effektvolle Oper "Anna Nicole" von Marc-Anthony Turnage bietet, ist brandaktuell und ein erschreckendes Spiegelbild nicht nur der amerikanischen Alptraum-Gesellschaft. Als "Anna Nicole" 2011 in London uraufgeführt und zwei Jahre später in einer Inszenierung von Jens Daniel Herzog in Dortmund erstmals auch in Deutschland gezeigt wurde, mag der grotesken Revue über das eher kurze Leben der gleichnamigen Sexbombe vor allem noch der Ruch von Sensationslüsternheit angehangen haben.
Umwerfende Darstellerin
Wer wollte, konnte amüsiert sein und das unterhaltsam gebaute und komponierte Stück als Blick in eine prekäre Yellow-Press-Welt rezipieren, der man selbst erfreulicherweise natürlich nicht angehört.
In Dortmund wurde die Oper, was für ein zeitgenössisches Werk heutzutage an ein Wunder grenzt, ein solcher Publikumsrenner, dass sie es sogar zu einer Zusatzvorstellung brachte. Klar, dass der jetzige Nürnberger Intendant Herzog die Erfolgsproduktion auch an seiner neuen Wirkungsstätte zeigen wollte - mit der umwerfenden Emily Newton in der Titelrolle, die schlichtweg eine Idealbesetzung ist und die er als neues Ensemblemitglied mitgebracht hat.
Die Vielzahl der weiteren Solisten, der stark geforderte Chor und etliche Statisten (darunter fünf Pole-Tänzerinnen) sind neu in der präzise einstudierten Inszenierung, die mit ihrem morbiden Beginn gleich ein Ausrufezeichen setzt: "I wanna blow you" stöhnt auf der Totenbahre die von Kostümbildnerin Sibylle Gädeke perfekt ausstaffierte Titel-Antiheldin in ihrer weltweit bekannt gewordenen Werbefoto-Pose und wartet aufreizend lange, bis sie den Satz mit "a kiss" rundet.
Alles nur falscher Schein
Selbstredend kommen an zentraler Stelle auch sexuelle Gefälligkeiten vor, wenn das dank Silikonkissen in Supersize-Größe zum prominenten Playmate und Partygirl aufgeblasene Provinzgirl seinen künftigen zweiten Ehemann bezirzt.
Das Publikum sieht aber nichts davon, weil schon viel neugieriges Volk auf der Bühne den Rollstuhl des senilen Milliardärs umringt. Deutlich hingegen erkennt man auf der um eine vordere Spielrampe erweiterten Bühne von Frank Hänig und Norman Heinrich, wie die medikamentenabhängige Anna Nicole sich am späteren Drogentod ihres Sohns schuldig macht. Das wirklich Erschreckende der sechzehn Szenen vom Aufstieg und Fall dieser Violetta Valéry im Neoliberalismus und Spätkapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts ist, dass sie sich unwillkürlich mit aktuellen Bildern aus den Vereinigten Staaten überlagern, deren Präsident Donald Trump heißt.