Eine Mischung aus Glück und Pragmatismus

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Inzidenzen sind bei der Corona-Pandemie umstritten.
Inzidenzen sind bei der Corona-Pandemie umstritten.

Drei Städte, drei Vorbilder bei den Inzidenz-Werten - und das konstant seit Monaten: Was machen Rostock, Tübingen und Münster "richtig"?

Rostock:

Ulrich Kunze, Pressesprecher der Stadt Rostock im Kreis Mecklenburg-Vorpommern, sieht die unglaublich niedrigen Inzidenzzahlen nordlichtgemäß nüchtern: "Wir hatten zweifellos das Glück, dass sich die erste Infektionswelle zunächst im Süden ausbreitete und erst mit einer Verzögerung von einigen Wochen hier oben bei uns ankam. Den zeitlichen Vorsprung haben wir frühzeitig genutzt. Beim ersten bekanntgewordenen Fall haben wir relativ zügig gehandelt und letztlich auch alle Schulen geschlossen, zudem ein ausverkauftes Konzert mit Johanes Oerding in der Stadthalle, zu dem viele Auswärtige angereist wären, umgehend abgesagt. Die Möglichkeit dieses sich Einstellens auf die Lage hatte der Süden Deutschlands so gar nicht. Wir wiederum konnten von den Erfahrungswerten profitieren."

Die Hafenstadt lag nur an einem Tag über der 50er-Inzidenz und hatte 2020 über einen längeren Zeitraum praktisch gar keine Neuinfektionen mehr. "Ich gebe zu, es war eine Mischung aus schnellem Handeln und Fortune, dass uns vor allem massive Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen erspart geblieben sind." Die Urlaubsregion kam im Sommer nahezu vollständig zum Erliegen, vor allem bei den beliebten Kreuzfahrten ab Warnemünde. Und die Schulen? "Wir hatten als erstes Bundesland den Schulbetrieb Ende Juli/Anfang August wieder gestartet und begleitend dazu dauerhaft und breit getestet, dadurch konnten wir auch die Kontaktnachverfolgung gewährleisten und hatten gute Chancen, mögliche Cluster früh zu finden", sagt Kunze. Er wolle nicht verschweigen, "dass wir einen relativ geringen Ausländeranteil von sieben Prozent haben, demnach auch kaum entsprechende großen Clanfamilien etwa, die sich mit vielen Personen hätten treffen können." Die relativ dünne Besiedlung im Umland sei sicher auch ein Vorteil.

Was ebenfalls eine Rolle spielt, sind die Pendlerströme. "Die sind bei uns so kaum vorhanden. Die Distanzen nach Hamburg oder Berlin sind doch relativ weit, und anders als anderswo in Mecklenburg-Vorpommern, wo regelmäßig Arbeitskräfte aus Polen einreisen, ist dieser Anteil an Grenzverkehr überschaubar."

Natürlich dürfe man nicht verschwiegen, dass es auch der Unternehmergeist des parteilosen OB Claus Madsen war und ist, der - wie in einem Betrieb - immer mindestens zwei Tage weiterdenke und nicht nur unmittelbar reagiere. "Der Lage einen Schritt voraus sein, im Lockdown schon das Danach im Auge haben: Das ist sein Credo. Wir testen sicher auch nicht weniger als andere Städte und Kommunen, was uns vielleicht mancher unterstellt hat."

So könne sich jeder Schüler seit Monaten bereits zweimal pro Woche auf freiwilliger Basis kostenlos testen lassen. "Weil wir das tun, können wir uns auch Öffnungen zutrauen. Und vielleicht halten wir als kühl geltende Norddeutsche uns auch strenger an Vorgaben, das wird uns ja nachgesagt, aber das kann ich nicht beurteilen. Wir haben schnell ein paar zunächst durchaus unpopuläre Maßnahmen wie eine Maskenpflicht in der Öffentlichkeit eingeführt, da waren wir wirklich konsequent."

Tübingen

Claudia Saldens Chef Boris Palmer (Grüne) ist seit Monaten beim Thema Corona in aller Munde und so etwas wie ein Vorzeige-OB der Republik. Die Pressesprecherin der Stadt Tübingen antwortet auf die Frage nach dem besonderen Weg der Uni-Stadt kurz und knapp: "Boris Palmers Ansinnen war von Beginn an, die Risikogruppen konsequent und bestmöglich zu schützen, also ältere Menschen und Risikopatienten." Bereits im Frühjahr 2020 seien allen Bürgern ab 65 Jahren in der Stadt kostenlos Stoffmasken zugeschickt worden, im Herbst dann die ersten FFP2-Masken.

"Wichtig war uns, Senioren auch im Alltag nicht der Gefahr größerer Gruppen auszusetzen. So hat Tübingen auf das Anruf-Sammeltaxi gesetzt. Heißt: Menschen ab 60 konnten zum Preis eines normalen Bustickets ein Taxi rufen und wurden so in Einzelfahrt oder Kleingruppen zur gewünschten Haltestelle gebracht. So wurde verhindert, dass diese Bürger in überfüllte Busse steigen mussten." Ähnliche Sonderrechte galten für den Handel, der auf Bitte der Stadt älteren Menschen vormittags ein Zeitfenster zum Einkauf reservierte.

Bekannt geworden ist Tübingen durch seine strikte Teststrategie. Salden: "Wir haben sehr früh mit dem Testen begonnen - erst mit PCR- und später mir Schnelltests. Auch da lag ein Hauptaugenmerk auf den vulnerablen Gruppen, also Alten- und Pflegeheimen. Wir haben allen Beschäftigten in den Heimen, auch in denen unter privater Führung, kostenlose Tests angeboten, natürlich auch den Besuchern. Schnelltests in Kitas und Schulen spielen natürlich auch eine wichtige Rolle." Eine Besonderheit in Tübingen stellt das Schnelltest-Mobil des DRK dar. Dort finden nach wie vor kostenlose Schnelltests für alle auf dem Marktplatz statt. Die Warteschlangen seien mal länger, mal kürzer, das Angebot oft heiß begehrt.

Münster

Marc Geschonke, Pressereferent der Stadt Münster, will sich auf Lorbeeren nicht ausruhen. "So hoffnungsfroh die Inzidenzzahlen machen, so fragil ist dieses Gebilde auch." Statistisch zu untermauern sei das alles kaum. "Daher ist die Frage nach dem Vorzeige-Potenzial immer schwierig zu beantworten. Sehr wohl können wir ,weiche' Faktoren benennen, die möglicherweise von Bedeutung sein können. Dazu zählt die Kommunikation. Die Stadt kommuniziert das Thema offensiv und intensiv über die örtlichen Medien und städtische Info-Kanäle, via Social Media, Telefon-Hotline und Online-Service, nimmt aber auch eigenes Geld für großflächige Anti-Corona-Plakatkampagnen in die Hand. Auf diese Weise haben wir starke Reichweiten und gute Akzeptanz."

Zudem sei der städtische Krisenstab breit aufgestellt, so dass das Zusammenwirken von Gesundheitsamt, örtlicher Ärzteschaft, Pflegeheimen, Krankenhäusern, Ordnungsdienst, Polizei, Feuerwehr, Hilfsorganisationen, Wissenschaftlern, Impfzentrum und anderen wichtigen Protagonisten im Kampf gegen die Pandemie jederzeit und kurzfristig gewährleistet sei. " Nach unserem Eindruck profitiert die Stadt vom Verhalten der Bürger, die sich in aller Regel auffallend diszipliniert an die Corona-Schutzregeln halten. So sieht man im Straßenbild der Stadt nur sehr selten Menschen ohne Mund-Nasen-Schutz", sagt Geschonke. Darüber hinaus gehörte Münster zu einer der ersten Städte in NRW, die schon in der ersten Corona-Welle die Pflicht zum Tragen von Mund-Nasen-Schutzbedeckungen in Teilbereichen der Stadt einführte.

Und: In Münster bleibe kein Impfstoff liegen. "Wir haben derzeit eine fast 100-prozentige Terminauslastung auch mit AstraZeneca und haben weitaus mehr Dosen angefordert, als es das Kontingent ausweist."

Kommentar: Zahlen sind Schall und Rauch

Das hätte Forest Gump in seiner kindlich-naiv anmutenden Weisheit zum Thema Corona bekundet? Vielleicht das: "Inzidenzen sind wie eine Schachtel Pralinen: Man weiß nie, was man kriegt."

Stimmt. Jetzt mal weitergedacht: Was bedeutet es für uns Bürger, wenn Kulmbach eine Inzidenz von 250 "beschert" wird? Aus der Sicht von Forest Gump und jedem Einzelnen gefragt? Es reichen offenbar 24 infizierte Bauarbeiter, um die roten Lampen glühen zu lassen. Zufall? Pech? Beides.

Viel wichtiger: Was ist mit den Infizierten: Sind sie alle sterbenskrank? Wohl kaum, sonst würden die Kliniken Alarm schlagen. Stecken sie andere Menschen unwissentlich an? Schon möglich, aber wer genau vollzieht das nach? Wer kann seit Monaten zweifelsfrei sagen, ob sich jemand etwa bei Alexander Herrmann im Restaurant oder an der Döner-Bude in Kulmbach infiziert? Exakt: niemand. Nur: Der eine muss dicht machen, der andere nicht, obwohl der eine eine Hygienekonzept hat, der andere... naja. Willkür, ick hör Dir trapsen.

Mit Verlaub: Da sind andere Städte/Regionen weiter und offenbar weniger obrigkeitshörig. Rostocks Bürgermeister Claus Madsen, der als zweiten Vornamen "Ruhe" trägt und parteilos ist (ein nicht unwichtiges Detail), begegnete von Beginn an dem Problem mit Logik statt Panik. Und mit den Möglichkeiten, die er hatte: Tests; Masken; Impfen, was da ist. In der "Sendung mit der Maus" hätte es geheißen: Klingt komisch, ist aber so.

Vielleicht sollten wir endlich aufhören, die Republik über einen Kamm scheren zu wollen, so wie es die Ministerpräsidentenkonferenz tat. Als gäbe es keine Unterschiede. Der Inzidenz-Spitzenreiter von heute kann morgen schon durchgereicht werden. Entschuldigung, wir sind doch nicht bei Dieter Thomas Heck in der "Hitparade" , wo es hieß: "Drei Mal dabei gewesen, bitten nicht wiederwählen!" Alles

Momentaufnahmen. So aber wird man immer mehr Verlierer ernten als Gewinner. Und das hilft uns dann wie genau bei der Pandemie­bekämpfung?