Aber totschweigen geht auch nicht. Nein, totschweigen soll und darf man nichts. Es gibt keine einfache Lösung, man muss in jedem Fall genau überlegen: Wie berichtenswert ist das hier, wie wahr ist es? Ist es gerechtfertigt, die kleine Anti-Corona-Demo genauso groß zu bringen wie eine Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer? Nicht-Berichten – und Nicht-Teilen! – kann eine effektive Strategie sein, wenn etwas tatsächlich keinen Nachrichtenwert hat. Und: Was wahr ist, muss man wiederholen. Immer wieder auf Fakten hinweisen, etwa bei Impfungen…
Verschwörungstheoretiker erzeugen Feindbilder, manche versuchen, Gewalt zu legitimieren. Ist das die Mehrheit?
Oder sind die meisten dumme Mitläufer, die dem Anführer nach dem Mund reden?
Verschwörungstheoretiker gibt es in allen Schattierungen. Es gibt Leute mit eigener Ideologie, eigenen Interessen. Es gibt die Handelnden, die ganz bewusst Unwahrheiten unters Volk bringen. Es gibt politische Strömungen, die die Demokratie grundsätzlich verändern wollen. Und es gibt all diejenigen, die von Unsicherheit getrieben werden. Sie würde ich nicht als „dumme Mitläufer“ bezeichnen, als Mitläufer schon. Psychologisch ist es nachvollziehbar, dass sie an Verschwörungstheorien glauben. Das ist eine menschliche, wenn auch falsche Reaktion auf die Ungewissheit unserer Zeit.
Früher undenkbar, heute Alltag: In den sozialen Medien kann jeder eine „Info-Blase“ um sich herum erschaffen. Wie wird sich das weiterentwickeln? Brexit, Trump, „Fake News“: All das gab in den letzten Jahren Anlass zu weltweiten Forderungen, dass Plattformen wie Instagram oder Facebook mehr Verantwortung übernehmen müssen für das, was sich durch sie verbreitet. Sonst galt: Viele Likes, viele Gegenstimmen – das war per se gut für die Plattformen, die dadurch Aufmerksamkeit verbuchen und Werbung verkaufen konnten. Nun sind die Algorithmen, die Verschwörungstheorien indirekt pushen, aber offenbar geändert worden – der Druck auf Facebook & Co. zeigt Wirkung. Derzeit gibt es eine Art Wanderung zu alternativen Plattformen: Parler statt Twitter, Odyssee statt Youtube. Die Alternativen haben aber eine geringere Reichweite. Meine Vermutung: Wenn abseitige Inhalte nicht mehr protegiert werden, werden sie auch weniger sichtbar.
Aus den Augen, aus dem Sinn? So ähnlich. Attila Hildmann beispielsweise ist jetzt auf Telegram statt auf Facebook aktiv. Die Mehrheit hört nicht viel von ihm. Dennoch: Es muss sich noch einiges ändern.
Was zum Beispiel? Ich habe kürzlich bei Amazon „Rothschild“ eingegeben, den Namen der jüdischen Familiendynastie. Ergebnis: Die Algorithmen empfahlen mir vor allem Bücher, die Verschwörungstheorien verbreiten. Dabei gibt es auch echte Sachbücher zu dem Thema. Meine Frage lautet nun: Müssen Verschwörungsbücher als Erstes vorgeschlagen werden? Sollte der Algorithmus nicht erst einmal neutrale Fakten auflisten?
Grundsätzlich hat ja jeder Mensch die Möglichkeit, die Informationsquellen bewusst zu wählen und zu prüfen. Vielleicht wollen manche Menschen ja gar nicht mehr selbstständig denken? Ich glaube, das war schon immer so. Man kann ja nicht in allen Bereichen ein Experte sein, man muss sich oft auf jemanden berufen. Auf wen, das ist die Frage. Studien belegen, dass Leute oft zu unbedacht Videos oder Artikel weiterleiten. Man sollte sich einfach vor jeder Aktion fragen: Woher kommt denn die Info? Kenne ich die Quelle?
Ist die Neigung, an mysteriöse Verschwörungen zu glauben, in bestimmten Personengruppen größer als in anderen? Generalisierbare Aussagen sind hier schwierig. Man kann es an Persönlichkeitseigenschaften festmachen: Die analytisch Denkenden, die Reflektierten, sind im Durchschnitt weniger anfällig für Verschwörungstheorien. Anfälliger sind Personen mit einem hohen „Need for Uniqueness“, also einer Art narzisstischem Bedürfnis nach Einzigartigkeit. Dieses Bedürfnis stillen manche Personen durch Verschwörungstheorien: „Ich bin kein Schlafschaf! Ich blicke durch!“
Wie geht man am sinnvollsten mit Menschen um, die beispielsweise behaupten, die Erderwärmung oder die Corona-Pandemie seien reine Erfindungen? Wichtig ist, dass man Gesprächspartnern, ob persönlich oder auf WhatsApp, mit Respekt begegnet, nicht von oben herab. Bei manchen Gegenübern darf man nicht erwarten, dass sie ihre Meinung sofort ändern. Steter Tropfen höhlt den Stein – den einen mehr, den anderen weniger. Gerade im Familien- oder Freundeskreis sollte man nicht schweigen, wenn jemand eine krude Theorie verbreitet. Das kann als Zustimmung missinterpretiert werden und trägt dazu bei, dass sich das verzerrte Weltbild noch mehr verfestigt.
Zur Person: Prof. Dr. Markus Appel ist ein international renommierter Kommunikations- und Medienpsychologe und seit 2017 Lehrstuhlinhaber an der Uni Würzburg. Er beschäftigt sich in Forschung und Lehre unter anderem mit dem Themenkomplex „Fake News“ und Verschwörungstheorien. Kürzlich hat er ein Buch dazu herausgegeben: Appel, M. (Hrsg.), Die Psychologie des Postfaktischen. Über Fake News, „Lügenpresse“, Clickbait & Co.