Verständige Beine

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Ich gehe noch diesseits der Nacht durch die Dunkelheit nach Portoroz, dorthin, wo von meinem Hotelfenster aus das Mondäne zu vermuten steht. An Kais und abendlich betobten Stränden entlang gelange ich...

Ich gehe noch diesseits der Nacht durch die Dunkelheit nach Portoroz, dorthin, wo von meinem Hotelfenster aus das Mondäne zu vermuten steht. An Kais und abendlich betobten Stränden entlang gelange ich ans Ziel, sommerlich verliebte Paare passierend, E-Rollern ausweichend. Rechts Strand und Hafenbecken, links die Hauptstraße samt Verheißungen eines Casinos und ein Hotel mit Verbeugungen vor der Architektur des Historismus nebst der Möglichkeit, Reklame in Leuchtschrift in die Nacht zu schicken. Einmal mehr habe ich mir Hemingway in die Hosentasche gesteckt und frage mich, wie er wohl den Lärm entlang der unweit verlaufenden Magistrale beschreiben würde, ob ihm dieser mit Beats aufgefüllt Urlauberfrohsinn aufstieße. Vor allem würde es mich interessieren, was er zu der neongrün strahlenden Tankstelle vermerken würde, die den Erwartungen zu so etwas wie Noblesse an diesem Ort schon eingangs eine Gewöhnlichkeit serviert.

Doch auch hier, in diesem leichtfertigen Gewühle des 21. Jahrhunderts, taucht eine Insel der Ernsthaftigkeit auf. Tangomusik ist zu hören, erhebt und verströmt sich aus Lautsprechern und bringt empfindsame Gemüter in die Melancholie. Meines auch. Menschen haben sich hier zum Tango einen Freiraum geschaffen, einen kleinen betanzbaren Bezirk, umgeben von Stühlen und Tischen und jener warmen Nachtluft, die Vorbotin eines ersehnten Sommergewitters ist. Eingebracht in diese Zeit an diesem Ort, ist für den Moment Versenkung möglich.

Einer der hier Versunkenen wirft Fragen auf. Es ist ein mittelalter Mann von weitgehend belanglosem Äußeren, an dem das Auffälligste die Abwesenheit eines Gesichtsausdrucks ist. Es liegt kein Fordern in seinem Gesicht, kein Lächeln, weder Sehnen noch Verlangen und noch nicht einmal eine Wehmut. Das ist unverständlich in Gegenwart eines klagenden Bandoneons. Unwillkürlich muss ich an Borges denken und an das, was er dem Tango zugutegehalten haben soll. Den Strudel einer irrealen Vergangenheit soll dieser gebären können und den Wunsch, kämpfend auf einer Barrikade gestorben zu sein. Von alledem war das Gesicht jenes Mannes weit entfernt. Noch unverständlicher, da sich dem Bandoneon nun eine trauernde Geige vermählte, an einem Ort, an dem Männer und Frauen tanzten, Tango tanzten, jenen in Anmut gegebenen Tanz um Verlockung und Reiz, Verstellung und Gier, Begehren und Eros und Abweisung und eng an eng geschmiegt. Das Gesicht des Mannes beherbergte keine Rafinesse, keine Tücke, keine Verderbtheit und kein Berührtsein von irgendwas, und im Grunde mochte man ihn fragen, ob er jemals erfahren habe, dass es Männer und Frauen gibt. Das alles galt für die obere Hälfte dieses Mannes und für diesseits der Nacht. Als wenig später der Tag ins morgen kippte, wurde er von einer schönen Frau zum Tanz aufgefordert. Ungerührt hielt er sie im Arm, seine Beine aber wussten alles um Verlockung und Reiz, Verstellung und Gier, Begehren und Eros und Abweisung, seine Beine tanzten Verständigkeit. Sie gehörten jenem Ort zu jener Nacht und dem Dialog mit den Beinen der Frau in seinem Arm. Ich habe diese Szene nie verstanden, aber sie war da und sie war gut, ein begehbarer Traum, dessen Symbole nicht restlos zu entschlüsseln sind. So, wie es mit Träumen im Grunde ja immer ist. Als ich aus der Versenkung aufstieg, war da wieder diese Nachtluft, waren wieder diese Beats entlang der Magistrale und ein schon willkommener Heimweg. Im Hotel werde ich Hemingway lesen und von Portoroz nach Paris übersiedeln, von 2019 in die 20er und wer weiß wohin noch. Den Mann mit den verständigen Beinen nehme ich mit.

Am Obermain werde ich mich an ihn erinnern.