Gott ist im letzten Wagen

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Beate Schilling
Beate Schilling

Wort zum Sonntag:

Jedes Jahr brachten Martins Eltern ihn in den Weihnachtsferien zu seiner Oma und fuhren am nächsten Tag mit dem gleichen Zug nach Hause. Dann sagt der Junge eines Tages zu seinen Eltern: „Ich bin jetzt ziemlich groß. Wie wäre es, wenn ich dieses Jahr alleine zur Oma gehe?“ Nach kurzer Diskussion sind sich die Eltern einig.

Sie stehen am Bahnsteig und geben ihm einen letzten Tipp aus dem Fenster, während Martin denkt: „Das hast du mir schon hundertmal gesagt...!“ Der Zug fährt gleich ab und der Vater flüstert: „Mein Sohn, wenn du dich plötzlich schlecht oder verängstigt fühlst, dann ist das für dich!“ Und er steckt ihm etwas in die Tasche. Jetzt sitzt der Junge alleine im Zug, ohne seine Eltern, zum ersten Mal...

Er sieht die vorbeiziehende Landschaft aus dem Fenster, Unbekannte um ihn herum hetzen, machen Lärm, kommen und gehen, der Schaffner spricht ihn an, dass er alleine ist...

So fühlt sich der Junge immer unwohler... Und jetzt hat er Angst. Er senkt seinen Kopf, kuschelt sich in eine Ecke des Sitzes, Tränen kommen ihm in die Augen. Er erinnert sich daran, dass sein Vater ihm etwas in die Tasche gesteckt hat. Mit zitternder Hand sucht er dieses Stück Papier, öffnet es: „Mein Sohn, ich bin im letzten Wagen...“

Wer von uns Kinder hat, kennt das. Liebe bedeutet frei zu lassen, auch wenn das Kind Wege einschlägt, die uns nicht begeistern. Wir wissen, dass Kinder ihre eigenen Wege finden und gehen müssen. Doch seien wir ehrlich: in Bezug auf Gott wünschen wir uns doch oft, dass er uns gar nicht so viel Freiheit zumuten soll. Wer hat nicht schon darum gebetet, dass Gott doch hier und dort eingreifen, Unrecht verhindern und Leid durch Menschen beenden sollte, weil wir in unserer Ohnmacht Gottes Eingreifen in diese unbelehrbare Menschheit als das kleinere Übel erachten.

Zum Erwachsensein und zur Freiheit gehört es jedoch auch, dass man selbst die Verantwortung für sein Handeln und die Folgen übernimmt.

Dass ein guter Vater im letzten Wagen sitzt, bedeutet ja nicht, dass er sofort nach vorne stürmt und alles wieder gut ist. Vielleicht genügt dem Jungen ja das Wissen, dass der Vater da ist, dass er einen Zufluchtsort hat, wenn die Kräfte schwinden. Vielleicht greift der Vater auch gar nicht ein, sondern nimmt das Kind einmal in den Arm und schickt es dann wieder nach vorne mit der Ermutigung zu weiteren selbstständigen Schritten.

Dieses Bild gefällt mir. Es beschreibt meine Beziehung zu Gott, der mir eher Zuflucht und Geborgenheit schenkt, als die Lösung aller Probleme ist. Gott lässt uns nicht allein, aber er nimmt uns auch nicht Entscheidungen ab. Er schenkt uns die Ruhe und Sicherheit, gut überlegt Entscheidungen zu treffen und vielleicht sogar ganz neue Aspekte mit in unsere Abwägungen einzubeziehen.

Gott steckt uns keinen Zettel zu. Er hat uns eine andere Möglichkeit gegeben, uns zu versichern, dass Gott da ist. Wenn Jesus uns ein Gebet schenkt, das wir alle von Kindesbeinen an kennen, dann deshalb, weil Gott für uns immer eine Adresse ist, an die wir uns wenden dürfen und sollen. Er will uns die Zuflucht und Geborgenheit schenken, die wir brauchen, um Kraft zu sammeln. Damit wir wieder Verantwortung übernehmen können, unbekannte Möglichkeiten entdecken und uns von Rückschlägen nicht entmutigen lassen. Das Vaterunser ist unser Anker, mit dem wir uns festmachen können an Gott. Er erwartet uns.

Beate Schilling Gemeindereferentin und Altenheimseelsorgerin Bad Brückenau