Der Adelsdorfer Jörg Bubel war 28 Jahre alt, als er versteckt im Wagen eines Fluchthelfers die damalige DDR-Grenze passierte. In Ostberlin ließ er sein altes Leben zurück. Wann er seine Familie wiedersehen würde, wusste er nicht.
Jörg Bubel wusste, wenn er jetzt gleich in den Kofferraum klettert, wird sein Leben ein anderes sein. Freiheit in der Bundesrepublik oder Gefängnis in der DDR. Dazwischen gab es nichts. Kurz bevor es losging, gab ihm sein Fluchthelfer noch eine Beruhigungstablette. Der Grenzübergang Helmstedt-Marienborn war nur noch ein paar Kilometer entfernt.
Er hat mit niemandem darüber geredet. Keiner wusste, was er vorhatte. Auch nicht seine Eltern oder sein älterer Bruder. Zu groß war das Risiko, sie damit in Gefahr zu bringen. Bloß zwei Freunde - einer, der den Schleuser organisierte und einer, der ihn zum vereinbarten Treffpunkt fuhr - wussten von seinen Fluchtplänen. "Das Schwierigste war der Tag davor. Da war ich nochmal bei meinen Eltern. Ich wusste nicht, wann ich sie wiedersehe", erinnert sich Jörg Bubel.
Bubel fühlte sich eingesperrt
Der Wunsch, aus der DDR zu flüchten, reifte schon länger in ihm. Er war 28 Jahre alt, hatte studiert, arbeitete als Ingenieur. Parteimitglied der SED war er nicht. Seine Eltern hatten eine sozialdemokratische Einstellung. Das färbte ab. Auch um die jungen Pioniere und die Freie Deutsche Jugend (FDJ) kam er herum. Geboren und aufgewachsen in Berlin-Pankow war die Grenze immer präsent. Erst recht, als die Mauer errichtet wurde und er nicht mehr, wie früher, zu Fuß oder mit dem Fahrrad ins Kino oder ins Freibad in West-Berlin konnte. Bubel fühlte sich eingesperrt. Wollte den politischen Druck loswerden. "Kein Mensch will sich vorschreiben lassen, was er zu denken hat", sagt der heute 68-Jährige.
Der 6. Juni 1975 war schließlich der Tag, der sein Leben veränderte. In einer Raststätte in Michendorf, ein paar Kilometer von Berlin entfernt, traf er sich mit seinem Fluchthelfer. Er kam aus dem Westen und war Teil einer Organisation. Die Flucht kostete 10 000 Deutsche Mark. "Er kam mit einem ziemlichen Schrottauto. Wir haben erstmal einen Kaffee getrunken. Als wir fahren wollten, ist es nicht mehr angesprungen. Da mussten wir anschieben."
Durch die Rücksitzbank in den Kofferraum
Zwei Stunden dauerte die Fahrt bis zur Grenze. Bubel saß zunächst auf dem Beifahrersitz. Der Schäferhund des Fahrers begleitete sie auf einer Decke auf der Rücksitzbank. Dann ging alles ganz schnell. Kurz vor der Grenze kletterte Bubel während der Fahrt nach hinten, klappte dort die Armlehne beiseite und schlüpfte durch ein dahinterliegendes Loch in den Kofferraum. Dann hieß es still sein, nicht bewegen, Ruhe bewahren. Einen Weg zurück gab es jetzt nicht mehr. "Bei der Grenzkontrolle hab' ich nur ein leises Murmeln gehört."
Als Bubel schließlich merkte, dass alles gut gegangen war, das Auto weiterfährt, war er erleichtert, doch eine letzte Anspannung blieb: "Man war ja erstmal nicht sicher, ob womöglich noch mehr Kontrollen kommen. Da bleibt man erstmal vorsichtig."
An der ersten Raststätte hinter der Grenze hielten sie an. Bubel war im Westen angekommen. Sofort rief er seine heutige Frau Eva an. Im Urlaub in Ungarn hatte er sie kennen gelernt. Ihre Eltern lebten zunächst als Deutschstämmige in Tschechien, siedelten aber bereits 1968 nach Augsburg aus. Nach dem ersten Wiedersehen in Hamburg ging es gemeinsam nach West-Berlin, wo Bubel zwei Wochen bei seiner Tante und Cousine lebte. Er meldete sich im Aufnahmelager und wurde vom amerikanischen, britischen und französischen Geheimdienst befragt. "Die S-Bahn von meiner Tante zum Aufnahmelager führte absurderweise durch die DDR. Da war mir schon mulmig zumute. Wenn einer, der mich gekannt hat, gesehen hätte, dass ich da drin sitze...".
Befragungen der Stasi
Umgekehrt befragte die Stasi auch seine Familie zu seinem Verschwinden. "Sie wurden beobachtet und überwacht. Meine Eltern hatten auch gemerkt, dass jemand in der Wohnung war, als sie nicht da waren." Erst als Rentner durften seine Eltern ihn einmal im Jahr für eine Woche besuchen. Auch zur Hochzeit mit Eva 1976 in Augsburg durften sie die DDR verlassen. Ihm selbst wurde erst 1987 genehmigt, seine Eltern zu besuchen.
Bubel baute in Adelsdorf, arbeitete bis zur Rente bei Siemens in Erlangen, ist seit 1990 im Gemeinderat. Als die Mauer am 9. November fiel, fuhr er mit seiner Frau und seinem Sohn gleich am nächsten Tag in die alte Heimat. "Wir haben in West-Berlin geparkt und sind zu Fuß entgegen den Massen in den Osten rüber. Der Osten war leer."