Unheimliche Begegnung mit Katja Petrowskaja im Hexenturm

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Katja Petrowskaja zu Gast beim Literaturkreis. Foto: Carolin Herrmann
Katja Petrowskaja zu Gast beim Literaturkreis. Foto: Carolin Herrmann

Eine ausgesprochen merkwürdige Begegnung, vielleicht sogar als etwas unheimlich zu beschreiben, bescherte die jüngste Lesung des Literaturkreises Coburg. Im Hexenturm war die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Katja Petrowskaja zu Gast.

Die Ukrainerin, die jetzt in Berlin lebt, wurde eben auch noch mit dem bedeutendsten deutschen Preis für Erstlinge geehrt, mit dem "Aspekt"-Literaturpreis des ZDF. "Mit ‚Vielleicht Esther‘ ist Katja Petrowskaja ein überwältigendes Debüt gelungen. Es reißt den osteuropäischen Himmel auf und zeigt den deutschen Lesern eine Welt, von der so noch nicht erzählt worden ist", urteilte die Jury.

Und wenn schon in diesem Geschichten-Band, der sich zu einem großen Panorama fügt, wenn in seinen machtvollen Bildern, der lapidaren Darstellung von Lebensgeschichten, in seiner poetischen Klarheit und Intensität Ungeheuerliches nach dem Leser greift, so öffnete diese zarte Gestalt gerade auch in ihrer Person am Mittwoch im vollen Hexenturm-Saal eine "andere" Dimension. Die Welt der "unorganisierten Materie", wie es einmal heißt? - Worüber man eigentlich nicht spricht.
Katja Petrowskaja hing selbst in der Spannung zwischen Angst, zu viel zu sagen, und dem Bedürfnis von dem zu erzählen, was ihr alles geschah.

Resonanzraum

1970 in Kiew geboren, interessierten sie ihre jüdischen Verwandten der Vergangenheit von Deutschland bis Russland überhaupt nicht. Sie selbst ist auch nicht jüdisch, gehörte voll und ganz dem sowjetischen Kosmos und seinen gigantischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts an. Es geht ihr bis heute vor allem um den "Resonanzraum", in dem sich die Dinge ereignen und in dem wir uns befinden. Woher dieser Drang kam, die Verschwundenen zu suchen, kann sie nicht sagen.

Als sie 1999 im Nieselregen erstmals auf dem Berliner Bahnhof steht, in der zugigen Leere inmitten dieser friedvollen Stadt, in der sie heute mit Mann und zwei Kindern lebt, ist vollkommen unerwartet "alles" präsent. Ein Gefühl des Verlustes überfällt sie ohne Vorwarnung, so dass sie um Gleichgewicht ringen muss.

Das Motiv des Fliegens bildet sich immer wieder heraus. Katja Petrowskaja erscheint selbst wie eine, die durch viele Ebenen der Realitätswahrnehmung fliegt, hellsichtig in eine Vergangenheit hinein, die sie doch gar nichts anging. Ein gefährlicher Zustand. Aus dem heraus sie aber Dinge unmittelbar mitteilen kann, derer wir nicht gewahr werden, die uns aber - in einem beherrschenden Unterbewusstsein?- prägen und lenken.

Was ihr widerfährt

Dabei lehnt es Katja Petrowskaja trotz der fulminanten Auszeichnungen ab, Literatin genannt zu werden: "Literatur ist Fiktion und ich bin nicht fähig zur Fik tion. Ich kann nur schreiben, was mir widerfährt." Was aber alles ihr da widerfahren ist in der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in der sie scheinbar lebt, floss in die 280 Seiten von "Vielleicht Esther", könnte aber auch eine dreibändige Saga jüdischen Familienlebens in Osteuropa über 100 Jahre hinweg füllen: so viele Seelenbegegnungen, so viele Abgründe im Alltäglichen, so viel Witz über alle Verzweiflung hinweg, Skurrilität, ganz normale Menschlichkeit im Guten wie im Bösen. Alles leicht und lapidar erzählt, dabei komplex und ständig aus dem Heute heraus reflektiert.

Manches ist "publizistisch", also stringent erzählt aufgrund umfangreicher Recherche in verschiedenen Ländern und Archiven. Dann tritt der Text immer wieder hinüber in einen traumgesichtigen, überrealistischen Zustand des "Deliriums", wie sich die Autorin selbst wundert, ein Zustand, der aber kontrolliert und überlegen beobachtend bleibt. - Atemberaubend.

Es gibt keine Erklärung dafür

Die Geschichte von der Großmutter des Vaters etwa, die vielleicht Esther hieß und 1941 im besetzten Kiew "mit nachlässiger Routine" von deutschen Soldaten erschossen wird. Jener Großonkel Judas Stern, der 1932 ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat in Moskau verübt, rein zufällig übrigens. Ein weiterer Großonkel, der Untergrundkämpfer in Odessa wird, ein Urgroßvater der in Warschau ein Waisenhaus für taubstumme Kinder gründete. Oder ganz im Heute die Geschichte vom Museumsbesuch Petrowskajas mit ihrer Tochter, bei dem die Elfjährige sich nicht abhalten lässt, gezielt in die schlimmste Abteilung zu gehen und vor der Übersichtstafel zur Vernichtung der Juden und den Listen der Ermordeten unvermittelt fragt: "Mama, wo stehen wir da?"

Als "Schreiberin" sieht sich Katja Petrowskaja, das schon, die nach einer Sprache sucht für das, was eigentlich nicht zu fassen ist. Als Unheimlichstes in allem aber ist zu benennen: die russisch sprechende Ukrainerin begann ihre Geschichten auf Russisch - und konnte dann nicht anders als auf Deutsch zu schreiben. "Es gibt keine Erklärung dafür." Vor allem nicht für die schlafwandlerische poetische Sicherheit und Präzision, in der ihr das gelang.

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther. Geschichten. Suhrkamp Berlin, 285 Seiten, 19,95 Euro.