Der international renommierte Historiker Christopher Clark sprach in Coburg mit einem sehr interessierten Publikum über die europäischen Verstrickungen vor dem 1. Weltkrieg.
Dem weltweit geachteten und diskutierten Historiker aus England war seine Zeit nicht zu schade, am Mittwoch extra zu einem Vortrag ins kleine Coburg zu fliegen. Den Vortrag von Christopher Clark, Professor of Modern European History an der Universität von Cambridge, als einen Höhepunkt des kulturellen Lebens in diesem Jahr zu bezeichnen, ist sicher nicht zu viel gesagt. Er traf hier, und das freute Gastgeberin Irmgard Clausen, Inhaberin der Buchhandlung Riemann, auf "großes historisches Bewusstsein".
Der große Saal von St. Augustin war proppenvoll, das Publikum erwies sich in der folgenden Fragestunde als seinerseits kritisch reflektierend und kompetent. Was doch keineswegs selbstverständlich ist, weder generell, noch in Anbetracht der Größe dieser Stadt.
Das wiederum machte dem Mitveranstalter, der Initiative Stadtmuseum, vertreten durch Rupert Appeltshauser, Mut: "Mit unseren bisherigen Bemühungen für Coburg, einen Ort des geschichtlichen Dialogs zu schaffen, sind wir bisher gescheitert. Sagen wir, Coburg war noch nicht reif dafür. Vielleicht ändert sich das jetzt." Er kündigte an, dass man für 2015/16 zusammen mit dem Staatsarchiv doch noch eine Ausstellung zum 1. Weltkrieg organisieren werde.
Tatsächlich spielte das Gedenken an den Ausbruch der "europäischen Urkatastrophe" vor 100 Jahren in der öffentlichen Erinnerungskultur eine eher geringe Rolle. Es herrscht die Meinung, die Erinnerung an den ersten großen Krieg sei durch das weit größere Trauma des Zweiten Weltkrieges verschüttet.
Die große Resonanz auf diesen Coburger Vortragsabend und generell auf Christopher Clarks grundlegende Studie "Die Schlafwandler.
Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog" belegt aber, wie Clark ausführte, dass die Erinnerung an diese erste "titanische" Katastrophe in der privaten Erinnerung lebendig ist.
"Fast jede Familie hat noch Erinnerungsstücke zuhause, vom Opa, Orden, Bilder, Feldpostkarten." Vor allem: Traumata dieses Ausmaßes werden in vielfältiger Form an die nächsten Generationen weitergegeben. Von wissenschaftlicher Seite verarbeitet, verstanden ist das europäische Desaster am Beginn des 20. Jahrhunderts trotz Millionen von veröffentlichten Seiten an Dokumentationen, Analysen und ambitionierten Darstellungen auch nicht.
Das Schlimmste dabei: Die "hohe Aktualität der Ereignisse und Diskussionen vor Ausbruch des 1. Weltkrieges", so Clark, ist gerade angesichts der aktuellen politischen Lage frappierend. Diese Zusammenhänge auch hier ins Bewusstsein gerückt zu haben, ist eine der wesentlichen Leistungen dieses Abends.
Jedenfalls war der Andrang am Büchertisch und am Signierstand groß.
Bei aller Kritik von Seiten deutscher Kollegen wird Christopher Clark generell bescheinigt, eine weitere bahnbrechende Untersuchung zu den Ursachen des 1. Weltkrieges vorgelegt zu haben. Die im Übrigen spannend wie ein Krimi zu lesen ist; bei aller sorgfältigen Darstellung der Ereignisse und Analyse der Zusammenhänge ist sie nah an den handelnden Figuren.
Und das waren furchtbar viele. Christopher Clark zeigte auf, dass es zahllose undurchschaubare, chaotische Entscheidungsprozesse in ganz Europa waren, Unsicherheit in den Regierungsorganen, große Instabilität an der Spitze der Systeme mit zahllosen Kämpfen und wirren Impulsen im Inneren, die Europa in den großen Weltkrieg schlittern ließen. Botschafter und Regierungsräte agierten selbstherrlich als Entscheidungsträger.
Ausschlaggebend seien auch die vielfachen raschen oder gar plötzlichen Veränderungen gewesen, die den Entscheidungsträgern permanente Improvisation abverlangt hätten. Womit sich Clark auch gegen die heute dominierende Interpreta tion von Geschichte als weitgehend strukturell geprägt wendet. "Einzelne Ereignisse können ungeheure Veränderungskraft entwickeln", wie uns gerade auch der Angriff auf das World Trade Center in New York gezeigt habe.
In der "offenen, polyzentrischen Struktur" Europas vor dem 1. Weltkrieg seien keine einheitlichen außenpolitischen Linien zu erkennen, bei aller Hetze und Propaganda auch keine langfristigen Kriegspläne. Die gesamte europäische Politik sei über Jahrzehnte hinweg von kurzfristigen taktischen Überlegungen geprägt gewesen, "schlafwandlerisch" eben.
Paranoia wird nicht kleingeredet Clark zieht vor allem deshalb Kritik auf sich, weil er aufzeigt, dass die deutsche Vorkriegspolitik "ins gesamteuropäische Ursachengefüge eingebettet" werden muss, womit er sich gegen die alleinige Schuldzuweisung an Deutschland wendet. "Das ist kein Freispruch für die Pickelhaube", betont Clark. Die "aggressive Paranoia der Deutschen" wolle er damit nicht kleinreden, ihre Außenpolitik sei unsinnig und katastrophal gewesen. Aber: "Der Krieg war die Frucht einer gemeinsamen europäischen politischen Kultur."
Den Vorwurf, dass er, indem er die Hintergründe auf dem chaotischen Balkan und unter anderem die Rolle Frankreichs näher beleuchtet, diesen Ländern die Schuld zuschiebe, nennt der übrigens nahezu perfekt deutsch sprechende Australier "bescheuert".
Wie er sich überhaupt gegen den schon vor dem Ausbruch des Krieges
gepflegten Ansatz einseitiger Schuldzuweisung verwahrt. "Es war ein gesamteuropäisches Desaster." Die unzweifelhafte Schuld Deutschlands am Nationalsozialismus und dem 2. Weltkrieg werde mit dieser Erkenntnis nicht revidiert.
"Dass Deutschland den nationalsozialistischen Weg ging, kann nicht allein auf den Versailler Vertrag und den 1. Weltkrieg zurückgeführt werden." Dass trotz all seiner Versuche, von der irreführenden Schuldfrage wegzukommen, doch immer wieder alles um eben die kreist, lässt den Experten für preußische Geschichte einen Ansatz von Resignation zeigen. Die entscheidende Frage für uns heute müsse es sein, wie es unter der Menschheit generell zu großen Kriegen kommt.
Und tatsächlich: Dass es in unserer sich immer weiter multipolar aufspaltenden, von neu en und schwer einzuordnenden Akteuren getriebenen Welt gerade gegenwärtig wieder besorgniserregende Tendenzen gibt, ist
offensichtlich.
Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. Deutsche Verlags-Anstal, 895 Seiten, 39,99 Euro.Christopher M. Clark geboren 1960 in Sydney, studierte Geschichte in Sydney Berlin und in Cambridge, wo er 1991 promovierte. Clark ist derzeitiger Director of Studies in History in Cambridge, wo er seit 1991 lehrt. Seit 2008 ist er dort Professor of Modern European History. Clark ist Experte für preußische Geschichte. Seine Forschungsschwerpunkte sind dabei die Geschichte des Pietismus und des Judentums, die Kulturkämpfe in Deutschland und Europa sowie das Verhältnis von Religion und modernem Staat. Für sein Buch "Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947" wurde ihm 2007 der renommierte Wolf son Prize verliehen.