In Südthüringen war der Jubel groß, als vor 25 Jahren der Zaun verschwand. Jetzt werden Stimmen lauter, die auch Verwaltungsgrenzen in Frage stellen: Gibt es bald eine große Gebietsreform?
Das Wunderbare an der deutschen Einheit ist, dass man gezielt suchen muss, wenn man ihre Spuren finden will, genauer: Spuren der Nicht-Einheit. Aus dem Todesstreifen ist ein grünes, blühendes Band geworden. Hier und da stehen Denkmäler, letzte Reste des Bollwerks zwischen Ost und West. "Archäologisches Grenzdenkmal" lautet die Überschrift auf einer Tafel bei Ermershausen (Haßberge). Nach 25 Jahren ist die Trennung Archäologie, Geschichte.
In den Köpfen ist sie präsent, denn "wer noch erlebt hat, wie hier die Welt zu Ende war, der vergisst das sein Lebtag nicht", sagt Torsten Fischer aus Schweickershausen. Fischer ist 44, Forstarbeiter und seit einem halben Jahr ehrenamtlicher Bürgermeister in einer der kleinsten Gemeinden Thüringens.
Am Ende der Welt
159 Menschen leben hier, wo einst die Welt zu Ende war: Der Blick aus Fischers Haus schweift über Wiesen zum Wald. Dort stand der Grenzzaun. Schweickershausen lag im Sperrgebiet, "unser Leben bewegte sich nur in zwei Richtungen." Süden und Westen waren abgeschnitten.
Jetzt ist der Blick aus Fischers Haus in jeder Hinsicht frei. Das Grenzdorf Schweickershausen ist grenzenlos geworden. Der Ausblick würde Thomas Müller gefallen. Der CDU-Politiker ist der Landrat des Landkreises Hildburghausen und wertet die Einheit als "großartige Leistung"; die friedliche Revolution sei ein historisches Ereignis, "auf das die Welt blickt und auf das wir Deutsche stolz sein können". Grenzenlos glücklich?
Misstöne
In den Jubel zum 25. Jahrestag, der am 3. Oktober unter anderem in Sonneberg gefeiert wird, mischen sich im Süden Thüringens Misstöne. "Wir sind auf dem Weg dahin, wo wir vor 25 Jahren waren, zum Zentralismus", regt sich Fischer auf. Und wenn Müller die Wörter "Erfurt" und "Landesregierung" ausspricht, klingt es so, als wären das Schimpfwörter.
Der Unmut richtet sich gegen die Pläne für eine Gebietsre form - und das nicht, weil sie von einer rot-grünen Regierung ausgebrütet wird. Die Reform ist noch auf dem Mist der vorherigen CDU/SPD-Regierung gewachsen. Schon damals wetterte Müller dagegen. "Man kann mit Zahlenspielen keine Politik machen", sagt er. Da werde "am Reißbrett" geplant, ohne Rücksicht auf Gewachsenes. Die diskutierten Mindestgrößen bei Gemeinden (6000 Einwohner) und Landkreisen (130 000) würden dazu führen, dass "willkürlich neue Grenzen gezogen" werden und über Jahre, wenn nicht über Jahrzehnte Unfrieden herrscht. "Denken Sie an die Gebietsreform in Bayern."
Die Freiheitsglocke
An die denkt auch Torsten Fischer. Er prophezeit "heftigen Widerstand", sollte die Landesregierung den "Zentralismus" durchboxen. Dann, so Fischer, könnte in Thüringen passieren, was 1978 im bayerischen Nachbarort Ermershausen geschah: Mit Polizeigewalt musste die Eingliederung nach Maroldsweisach erzwungen werden. Ermershausen stritt 16 Jahre lang, die Freiheitsglocke wurde zum bundesweit bekannten Symbol; seit 1994 ist die Rebellen-Gemeinde wieder selbstständig.
Fischer ist einer von vielen, die 25 Jahre nach dem Fall der Grenze mit der Verschiebung von Grenzen zumindest liebäugeln. "Wenn schon nicht mehr selbstständig, dann lieber bei Ermershausen", meint er. "Franken hört am Rennsteig auf", sagt auch Landrat Müller.
Ländergrenzen können nur die Landtage ändern, und daran denkt in Erfurt niemand und in München schon gar keiner; eine der Konsequenzen wäre ja eine Gebietsreform in Bayern. Und das ist bei aller Willkommenskultur tabu. Fast erleichtert verweist das Innenministerium in München auf die Flüchtlingskrise, die "alle Kräfte bindet".
Flucht, Grenzen? 2015 könnte zum historischen Jahr werden, zeigen doch die Flüchtlinge, dass Grenzen bedeutungslos werden. So wie die "archäologische", die vor 25 Jahren verschwand.
Trabi unterm Hammer
Die Landkreise Coburg, Haßberge, Hildburghausen und Sonneberg sowie die Stadt Coburg feiern den Jahrestag der Einheit am Samstag, 3. Oktober, in Sonneberg (Thüringen). Das Motto der Feier von 10 bis 24 Uhr ist auch ein politisches Statement: "25 Jahre Deutsche Einheit - grenzenlos fränkisch". Festredner ist der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (14.30 Uhr). Zu den weiteren Höhepunkten des Programms gehört die Versteigerung eines restaurierten original Trabi Kombi, Baujahr 1966. Das Mindestgebot für das mausgraue Zeitzeugen-Auto liegt bei 2500 Euro.
"Bayerns Türen stehen für Thüringer Landkreise offen" - hat Minister Söder 2013 laut Presse gesagt.
Die damit verbundene zweite Kreisgebietsreform in Bayern kann ich nur ausdrücklich begrüßen, auch hier sollten größere Einheiten gebildet werden, die sich allerdings diesmal an historischen und tatsächlichen Beziehungen der Landstriche untereinander orientieren müssen.
http://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/Bayerns-Tueren-stehen-fuer-Thueringer-Landkreise-offen-id23878761.html
Wozu Gebietsreformen vom grünen Tisch führen können, sieht man am Landkreis Haßberge. Solche Reformen betreffen schließlich nicht nur den Sitz des Landratsamtes, sondern ziehen weitere Verwaltungszuordnungen nach sich, die z.B. für den Raum Ebern ungünstig bis dorthinaus sind. Man denke nur an die Zugehörigkeit zum Arbeitsamtsbezirk Schweinfurt, eine Stadt, in der der gewöhnliche Eberner ortsunkundig ist. Die Suche nach der "Kornacher Straße", der Adresse der Arbeitsagentur dort, gerät schon mal zur Suche nach einer "Kronacher Straße", die einem leichter von den Lippen kommt. Oder die Zumutung, künftig die Bereitschaftspraxis in Haßfurt aufsuchen zu müssen. Künstliche Grenzen braucht kein Mensch, siehe den Artikel neulich über Pendlerströme. Dort wurde Ebern einfach eine "Grenzlage" zugewiesen, ein Unsinn sondergleichen, wo Ebern vor den Toren der Stadt Bamberg liegt.