Laufen und zugleich beten?

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Laufend beten oder betend laufen: Geht das? Und wofür ist das gut?
Laufend beten oder betend laufen: Geht das? Und wofür ist das gut?
Dr. Ludwig Schick,Erzbischof von Bamberg und Vorsitzender der Kommission X "Weltkirche" der Deutschen Bischofskonferenz
Dr. Ludwig Schick,Erzbischof von Bamberg und Vorsitzender der Kommission X "Weltkirche" der Deutschen Bischofskonferenz
 
Professor Dr. Stefan Voll, Leiter des Universitätssportzentrums Bamberg und der Forschungsstelle für Angewandte Sportwissenschaften
Professor Dr. Stefan Voll, Leiter des Universitätssportzentrums Bamberg und der Forschungsstelle für Angewandte Sportwissenschaften
 

"Sich regen bringt Segen" einmal unter neuen Blickwinkeln betrachtet. Wie wirkt das Laufen sich auf Körper, Geist und Seele aus?

Dr. Ludwig Schick,
Erzbischof von Bamberg und Vorsitzender der Kommission X "Weltkirche" der Deutschen Bischofskonferen,
und
Professor Dr. Stefan Voll,
Leiter des Universitätssportzentrums Bamberg und der Forschungsstelle für Angewandte Sportwissenschaften,
haben sich tiefsinnig mit dem Thema "Sich regen bringt Segen" beschäftigt:



A ufgesetzt, konstruiert, unzusammenhängend, ja sogar gegensätzlich. So werden vermutlich erste Überlegungen ausfallen, wenn es darum geht, die Begriffe "Laufen" und "Beten" zusammenzubringen. Und dieser Eindruck scheint sich bei einer nur oberflächlichen Betrachtung auch zu bestätigen.
Doch je tiefer man einsteigt, desto mehr spannende Zusammenhänge werden augenfällig - auch jenseits des geläufigen Sinnspruches "Sich regen bringt Segen". Aus einem vermeintlichen Gegensatz kann ein fruchtbarer Quell körperlicher und geistiger Lebensbereicherung werden.

Kirchenbesucher werden messbar weniger, die Laufbewegung nimmt konstant zu. Das muss keine gegenläufige, schon gar nicht eine voneinander abgekoppelte Entwicklung sein. Dabei scheint die negativ befrachtete Aussage: "Der Kirche laufen die Gläubigen weg!" den Ansatzpunkt zu bieten, dass sie auch wieder hinlaufen können, oder zumindest "gemeinsam" laufen. Diese Überlegung impliziert eines: Laufen und Beten passen irgendwie zusammen, haben gemeinsame Verwandte und halten ein Potpourri an gegenseitigen Anschlussmöglichkeiten bereit, die es zu identifizieren gilt und die lebensbereichernd wirken können.

Zu dieser Einschätzung kommen auch Sportwissenschaftler der Sporthochschule Köln. "Laufen ist wie Beten, es geht in beiden Fällen um eine Auszeit von der Welt", sagt der Sportwissenschaftler Stefan Schneider.
Bei Betern und bei Läufern kommt es gleichermaßen zu psycho-physischen Entspannungsprozessen, die sowohl an objektivierbaren, physiologischen Parametern, als auch in der subjektiven Bewertung der Probanden nachweisbar sind. Wer regelmäßig läuft, weiß um die Wirkung von Sport auf den Körper, aber auch auf Seele und Geist. Und wer einmal die psychohygienische Wirkung des Laufens erfahren hat, dem wird Laufen zur inneren Motivation, zum Ausgleich von Stress und zur Bestätigung eines positiven Selbstkonzeptes.

Im Laufen nehmen sich die Menschen aus dem Alltag heraus und generieren eine Reihe kathartischer - also reinigender, kompensatorischer, ausgleichender - Gedanken wie: "Mal die Seele baumeln lassen", "Sich auf die Monotonie der Bewegung konzentrieren" oder "Den Kopf frei bekommen". Zudem kommt es zu einer Harmonisierung verschiedener Körperfunktionen und dadurch zu einer neuen Balance zwischen Körper, Seele und Geist.


Das Gefühl weiterzukommen

"Sport tut den Menschen gut!" Dieses Dogma galt und gilt uneingeschränkt. Es gibt zahlreiche Befunde, die den Einfluss von Bewegung auf das physische, psychische und soziale Wohlbefinden nachhaltig dokumentieren. Allein diese Erkenntnis bietet schon positive Anschlussmöglichkeiten für eine regelmäßige Einbeziehung von Spiritualität und Meditation in das ausdauernde Laufen. Dadurch kann ein Lauf-Ritual entstehen. Die Monotonie der Laufbewegung und der "Schritt-für Schritt-Charakter" lassen dabei ein Gefühl des Voranschreitens, des Weiterkommens und des Sich-Entwickelns entstehen.

In einer zunehmend mechanisierten und technisierten Welt hat der Körper seine Funktionen als Arbeitsmittel weitgehend aufgegeben. Das ausdauernde Laufen bringt dieses bisweilen verloren gegangene Körpergefühl wieder zurück und ermöglicht einen neu erlebten Leib-Geist-Dualismus, aus dem Selbstvergewisserung, Stabilität und Ausgeglichenheit entstehen können. Die Folge: Entspannung, Entschleunigung und gesteigertes Wohlbefinden.

Schon Platon und Aristoteles und in der Nachfolge die neuzeitliche Philosophin Hannah Arendt gaben als Leitformel für ein gelingendes Leben eine Kombination aus "vita activa" (also aktivem Leben) und einem Leben der Betrachtung, des Reflektierens und des Nachdenkens ("vita contemplativa") aus. Und auch Seneca war der Meinung: "per aspera at astra", dass die Sterne nur durch Anstrengung zu erreichen seien.
Für moderne Philosophen wie Csikszentmihalyi stellt sich ein beglückendes Gefühl vorzugsweise dann ein, wenn man in einer Tätigkeit aufgeht. Diese gerade beim ausdauernden Laufen erlebbare Anstrengung und Unmittelbarkeit ist mehr als eine Streckenüberwindung von A nach B und erschließt neue Erlebnis- und Erfahrungsdimensionen.

Vordergründig wird mit zunehmender Laufstrecke ein Abstandnehmen zum Alltagsleben und dadurch ein Offenwerden ermöglicht. Dies kann durch die sogenannte "Rucksack-Metapher" begünstigt werden: Mit der Atemluft wird das Gute ein- und das Belastende ausgeatmet. Dadurch wird der Sorgen-Rucksack spürbar leichter. Fast zwangsläufig kommt man dann zu dem Punkt, sich auf das eigene Leben zu besinnen und die Assoziation anzubahnen, dass einen jeder Laufschritt körperlich und seelisch voranbringt. Somit ist die Plattform beziehungsweise die Voraussetzung gegeben, dass auch meditative und spirituelle Gedanken Raum und Bedeutsamkeit finden und lebensbereichernde Wirkung erlangen können.

Wissenschaftler (Kubesch, Zimmer und andere) haben eindrucksvoll nachgewiesen, dass ein beabsichtigter Lern- und Veränderungsprozess dann am effektivsten ist, wenn möglichst viele Sinne daran beteiligt sind. Beim ausdauernden Laufen wird das Erleben durch das Körpergefühl, das intensive Sehen, Hören und Riechen verstärkt. Demzufolge erlangen auch meditative und spirituelle Gedanken mehr Tiefe und Nachhaltigkeit.


"Laufend" erinnern

Durch das Sprechen eines Gebetes oder den Gedanken an Gott während des Laufens bekommt vieles, das am eigenen Körper erspürt, in der Natur oder Stadt gesehen, gehört und wahrgenommen werden kann, Beziehung zu Gott und schafft dadurch Nähe. Das Gefühl des Aufwachens und Wohlfühlens, das mit dem Laufen häufig einhergeht, bietet Anlass, sich des von Gott gegebenen Körpers und Geistes bewusst zu werden. Wenn man beim Loslaufen an Gott denkt, nimmt man ähnlich wie bei einer Wallfahrt - bildhaft gesprochen - den Glauben unter die Füße und kann dadurch unter freiem Himmel Gott näher kommen. Man verbindet gleichsam seine ganze psychosomatische Konstitution mit Gott und kann dadurch in einen fiktiven Dialog mit ihm eintreten.
Laufen kann Beten nicht ersetzen, vor allem nicht, wenn es um ein Not- oder Trauergebet geht, aber es kann für spirituelle Erlebnisse genutzt werden. Frische Luft, Sonne, Wolken und Vogelgezwitscher eröffnen die Möglichkeit, an Gott, den Schöpfer der Natur, zu denken und dabei seine eigene Position in diesem Mikrokosmos zu reflektieren und unter Umständen neu zu definieren. Doch auch Bitten können beim Laufen an Gott herangetragen werden. Verschiedene Bauwerke, Orte oder auch Menschen, denen man unterwegs begegnet, bieten Anlässe zu einer spirituellen Betrachtung. Beispielsweise kann ein Gefängnis dazu anregen, an die Gefangenen und an die Menschen zu denken, denen sie Leid zugefügt haben.

Beim Laufen kommen häufig Erinnerungen an gestern und vorgestern hoch, die mit Wohlbefinden, aber auch mit Ärger, ungelösten Fragen und Problemen verbunden sind. Durch die physiologisch bedingte Ausschüttung von stimmungsaufhellenden Hormonen werden beim Laufen oft die Freude und der Dank vermehrt, wodurch sich mancher Ärger auflöst. Auf viele persönliche Fragen findet man häufig Antworten und für Probleme oftmals Lösungen.
Man kann auch jedes Laufen individuell gestalten, mit Gott eine Verbindung eingehen und somit eine individuelle Lauf-Liturgie entwickeln. Ein so gestaltetes Laufen kann eine intensive Introspektion ermöglichen, da kaum ein anderes Erlebnis so ausgeprägt die Einheit von Körper, Seele und Geist spüren lässt und zu einer ausgeprägten Gefühlstiefe führt. Beim spirituellen Laufen kann man seinen Körper quasi als Tempel entdecken, in dem man sich selbst und auch Gott begegnen und daraus bereichert hervorgehen kann.
Sich regen bringt doppelt Segen.



Quellen:
Schneider, S. (2013): Ist Laufen Beten? Spirituelle Dimensionen sportlicher Aktivität und (neuro-) physiologische Dimensionen christlicher Spiritualität.
Zimmer, R. (2005): Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Erziehung und Bildung.
Brehm, W. (2013): Sport als Mittel in Prävention, Rehabilitation und Gesundheitsförderung. Eine Expertise.




Anregungen zur praktischen Umsetzung

• Suchen Sie sich eine Laufstrecke, in der die "Schönheit der Schöpfung" erkannt werden kann. Auch in Großstädten gibt es solche Oasen. Man kann manche Stellen, die einen besonders anheimelnden Charakter haben, mit positiven Bezeichnungen besetzen und damit den Gedankengang anschließen, Gott für diesen idyllischen Teil der Schöpfung zu danken.

• Das Vaterunser bietet einen lohnenden Zugang zu Gott. Der Läufer kann sich Satz für Satz im Laufrhythmus vorsprechen und stets eine gezielte Reflexion über den Sinn anschließen. Dabei können eigene Gedanken, Sorgen, aber auch Bitten einbezogen werden. Gerade mit dem Schluss des Vaterunsers kann so Orientierung gegeben und eigene Perspektiven können entwickelt werden.

• Bei jedem Lauf kann ein Thema beispielsweise mit zwei, vielleicht bipolaren Zitaten als läuferische Denkaufgabe mitgenommen werden. Die diskursive Auseinandersetzung während des Laufens beispielsweise mit "Euer Vater im Himmel wird denen Gutes geben, die ihn bitten" (Mt 7/11) und "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" (Mk 15,34) kann zu einer fundierten Bestimmung der eigenen Position führen.

• Das Laufen kann von geistlichem Liedgut, das vom MP3-Player kommt, begleitet werden.