Die Leserin sollte mehr aus ihrem Talent machen. Nicht zu schnell, nicht zu langsam, klar, deutlich und mit perfekter Betonung hatte sie die komplette Aufmerksamkeit aller erreicht. Doch es ist wie so oft: Es war eine schwierige Bibelstelle mit hochkompliziertem Satzbau. Außerdem musste viel Bibelwissen vorausgesetzt werden - nicht gerade einladend für jemanden, der nicht bibelfest ist. Sehr gut gelesen.
4. Predigt
Pfarrer Volker Maly ist Kur- und Urlauber-Seelsorger. Als er in die Kanzel steigt, bezeichnet er sie als "Kommandobrücke" - die meisten müssen grinsen. Doch Maly erteilt von oben herab keine Befehle. Er nähert sich den Menschen über eine schwierige Stelle des Apostel Paulus, um sie sofort ins normale Leben zu übersetzen. Und das klar, bodenständig, selbstironisch und auf Augenhöhe. Das war keine Predigt, das war Lebenshilfe. Und das sicherte ihm die volle Aufmerksamkeit aller - eine ganz natürliche Autorität
5. Kommunion/Abendmahl
Eine Schlange für den Wein, eine andere für den Traubensaft: In der Erlöserkirche konnte man wählen. Schön, wie aufmerksam Pfarrer Maly war: Am Rande saß eine ältere Frau im Rollstuhl, begleitet von einem Mann. Als Maly die beiden im Augenwinkel entdeckte, wandte er sich ihnen sofort zu und ließ ihnen den Vorrang. Die Menschen, die zum Abendmahl gingen, waren durchweg in der zweiten Lebenshälfte. Es war nur ein Kind in der Kirche. Dennoch ein warmherziges Ritual.
6. Segen
Nach der Segensformel warteten die Gläubigen, bis Pfarrer Maly wieder die Eingangstür erreicht hatte. Dort schüttelte er jedem Gottesdienstbesucher zum Abschied die Hand und plauderte mit einigen. Durch die Begrüßung und Verabschiedung blieb das Gefühl hängen, willkommen zu sein.
7. Ambiente
Wie eine viktorianische Terrasse - das ist der erste Eindruck vom Inneren der Erlöserkirche: Rund herum stehen luftige Säulen, sie sehen aus wie aus Holz, was sich sehr gut zur Holzkassettendecke macht. Durch die erdigen Farben wirkt die Kirche, deren Schiff die Blickachse auf drei farbenfrohe Fenster lenkt, sehr warm und heimelig. Schmuck wie beispielsweise Blumen hat die Kirche keinen. Das Auge hält auch inne.
8. Kirchenbänke
Aua. Wer kommt auf die Idee, in Brustwirbelhöhe an der Rückenlehne eine zusätzliche und vollkommen unnötige Leiste einzuziehen? Hier ist noch viel Luft nach oben.
9. Beleuchtung
Die Kirche ist innen in gedeckten Farben gestrichen, weshalb die drei Kirchenfenster hinter dem Altar extrem gut herauskommen und in allen Farben leuchten. Ein Blickfang sind außerdem die wundervollen Kronleuchter in der Mitte, die ebenfalls für gemütliche Beleuchtung sorgen. Eine Beleuchtung wie aus dem Museum.
10. Sinne
In einem evangelischen Gotteshaus geht es nicht darum, Sinne anzusprechen, sondern dem Geist eine Botschaft zu vermitteln. Prunk und Protz fehlen in der angenehmen Nüchternheit. So kann sich der Gläubige ganz auf das Gesagte und Gesungene konzentrieren. Hier kann sich der Gläubige ganz in sich zurück ziehen.
Warum ein Gottesdiensttest?
Wir wollen mit unserem Gottesdienst-Test die Kirchen ein wenig mehr ins Blickfeld der Öffentlichkeit rücken. Unter Kirchgängern, Geistlichen und Lesern soll eine Diskussion darüber entstehen, was einen guten Gottesdienst ausmacht. Dieses in der Regel sonntägliche Treffen hat für evangelische wie katholische Christen ja bis heute eine große Bedeutung. Soll lebender Ausdruck des Christseins sein. Wir haben uns für eine Bewertung nach objektiven Kriterien theologische Hilfe geholt bei den Professoren Martin Stuflesser (Würzburg), er ist auch Berater der deutschen Bischofskonferenz, und Martin Nicol (Erlangen), der mit seinem Buch "Weg im Geheimnis" ein Plädaoyer fpr den evangelischen Gottesdienst abgibt. Ergänzt werden objektive Kriterien um die subjektiven Eindrücke, die unsere Kollegen gewonnen haben. ang
Alle Berichte unserer Serie finden Sie auf unserer Übersichtsseite zum Gottesdiensttest. Dort finden Sie auch ausführliche Infos.