Tobias Fürst (35) ist neuer Leiter der Regens-Wagner-Schule. Der Mann mit Zopf und Polohemd gehört zu den jüngsten deutschen Schulleitern. Trotzdem hat er eine klare Vorstellung, was Schule für Kinder mit Behinderung leisten muss.
In Tobias Fürsts Büro kann das Gespräch nicht stattfinden, das wird gerade gestrichen. Lässt sich der "Tapetenwechsel" im Büro auf den Stil übertragen, nach dem der neue Leiter die Regens-Wagner-Schule ausrichten wird? Wir haben uns mit dem 35-Jährigen unterhalten: über die Herausforderung des Chefseins, unterstützende Autorität und sinnvolle Inklusion.
Mit 35 Jahren sind Sie ein sehr junger Schulleiter. Trotz wenig Erfahrung sind Sie nun im Amt. Sind Sie so geeignet oder gab es so wenige Mitbewerber?Tobias Fürst: (lacht) In das Bewerbungsverfahren habe ich keinen Einblick.
Dass ich mich überhaupt beworben habe, liegt daran, dass ich in den vergangenen Jahren als Stellvertreter meiner Vorgängerin (
Anne Wayand, Anm. d. Red.) unwahrscheinlich viel an der Schulentwicklung mitarbeiten konnte - und mir die Schule und die Einrichtung sehr ans Herz gewachsen sind. An einer anderen Schule hätte ich mich zum jetzigen Zeitpunkt nicht als Schulleiter beworben.
Was reizt Sie an der Stelle?In den letzten Jahren wurde mir immer klarer, dass mir dieses dem Unterricht "Übergeordnete" - wie Personalentwicklung und Schulentwicklung - sehr viel Freude bereitet. Als Stellvertreter meiner Vorgängerin weiß ich, was Schulleitung leisten muss. Trotzdem muss ich noch hineinwachsen in die Aufgabe, die viel Verantwortung mit sich bringt für die Schüler und das Kollegium. Dann sind Statistiken zu pflegen, Kosten zu kalkulieren ...
Schüchtert Sie das ein?Ich hätte gern noch ein paar Jahre als reiner Lehrer gearbeitet, um noch mehr Erfahrung zu sammeln. Es waren nach dem Referendariat nur vier. Sieben Jahre wären sicher eine gute Erfahrungsbasis gewesen. Aber ich hatte gleichzeitig die Sorge, dass das, was wir in den letzten Jahren hier begonnen haben, nicht angemessen weitergeführt wird.
Was meinen Sie damit?Ich denke, die Qualität einer Schule und die Art, wie gut Kinder Erziehung und Bildung erfahren, hängt damit zusammen, wie eine gesamte Schule konzipiert ist. Gibt es ein einheitliches Konzept? Gibt es jemanden, der die Umsetzung dieses Konzepts im Blick hat, der koordiniert?
Ich glaube, wir haben gute Voraussetzungen wie ein hohes Niveau an Unterrichtsqualität und technische Ausstattung. Außerdem verfügen wir über gutes pädagogisches Fachwissen sowie spezielle Fachkenntnisse etwa im Bereich Autismus und Unterstützte Kommunikation. Hinzu kommt der erzieherische Konsens: Bis auf zwei Schüler leben alle in unserer Einrichtung. Deshalb können pädagogische Maßnahmen innerhalb und außerhalb des Unterrichts aufeinander aufbauen.
Wieso ist das so wichtig?Wir haben besondere Schüler mit besonderen Bedürfnissen. Die wenigsten sind hier, weil ihre Eltern es einfach als förderlich ansehen. Meist waren die Eltern schlicht überfordert oder konnten die täglichen Herausforderungen daheim nicht länger leisten. In unserem Haus stellen wir uns so gut es geht auf die Verhaltensproblematiken der Kinder ein. Und das soll einheitlich ganzheitlich fortgeführt und entwickelt werden. Das ist mir ein Anliegen.
Kann man dem Konzept, das Sie zuvor angerissen haben, einen Namen geben?Es spielen verschiedene Einflüsse hinein. Darunter die Überzeugung, dass jeder Schüler das Recht auf Unterricht hat, aber auch die Pflicht teilzunehmen, unabhängig von der jeweiligen Verhaltensproblematik: Schule ist da, um Bildung zu vermitteln und auf das Leben danach vorzubereiten - außerhalb des Schutzraums Schule. Schon wenn unsere Bewohner von der Kinder- in die Erwachsenen-Wohngruppe wechseln, ist das eine andere Welt. Sie erfordert mehr Selbstständigkeit und soziale Kompetenzen, die gelernt werden müssen.
Sie lassen an dieser Schule also nicht alles durchgehen ...Nein. Kinder brauchen Autorität. Nicht so, wie sie früher gelebt wurde, also streng und von oben herab. Sondern Grenzsetzung in einer wohlwollenden, begleitenden Art und Weise. Unterstützend statt bestrafend. Wir versuchen, in diesem Sinne Instrumentarien zu entwickeln, die Schüler bei ihrer Entwicklung unterstützen. All das gepaart mit Impulsen der Ermutigungspädagogik. Wir wollen keine Frustration, sondern Erfolgserlebnisse fördern.
Die Wurzeln der Institution Regens Wagner sind durchweg religiös belegt. Inwiefern spielt Religion für Sie eine Rolle? Ich komme aus Oberbayern, bin also katholisch sozialisiert worden (lächelt). Der Glaube ist für mich ein Bezugspunkt. Vielleicht nicht der zentrale Punkt, aber Teil meines persönlichen Fundaments. - An dieser Schule wird das traditionell stark gelebt. Ich denke auch, dass das Ritualisierte im Glauben den Schülern Halt gibt. Wir stülpen Schülern oder Mitarbeitern aber nichts über. Wir respektieren unterschiedliche religiöse Überzeugungen, haben ökumenischen Religionsunterricht und Mitarbeiter, die dem Islam angehören. Aber wir feiern die Feste im Kirchenjahr und bereiten unsere Schüler auf die Sakramente vor. Wir erwarten, dass man diesem Rhythmus nicht ablehnend gegenübersteht.
1847 wurde die Institution "Regens Wagner" gegründet, um Menschen mit Behinderung zu helfen. Inwiefern hat sich die Situation dieser Menschen seither verändert?Man kann das nicht schwarz und weiß sehen. Ich denke, Menschen mit Behinderung werden in der Gesellschaft heute eher wahrgenommen und als normal angesehen. Auch weil die Schulen und Einrichtungen bewusst in die Gesellschaft gehen. Früher waren Einrichtungen wie diese meist fernab der Stadt, um sie rauszuhalten. Wir sind hingegen bewusst - wie beim Einkaufstraining bei Edeka - in der Öffentlichkeit präsent. Darüber hinaus kooperieren wir mit der Grundschule und Mittelschule Altenkunstadt und haben einen Partnerklasse in Hochstadt.
Inklusion ist ein populäres Stichwort, das dazu passt.Ja, ich denke, wir leben hier Inklusion. Gleichzeitig verändert sich auch die Gesellschaft. Sie ist auf einem guten Weg, aber wir sind noch keine inklusive Gesellschaft.
Kann es Inklusion überhaupt geben, solange es Sonderschulen gibt?Förderzentren haben ihre Berechtigung. Die Diskussion um Inklusion darf man nicht nur politisch führen und dabei das Individuum vergessen. Man muss immer schauen: Tut ihm oder ihr Inklusion gut? Profitiert dieses Kind von Beschulung in einer "normalen" Schule oder wäre das belastend? Bei uns sehe ich - aufgrund von Einschränkungen oder traumatischen Erfahrungen - wenige Kinder, die von Inklusion im Sinne der Auflösung von Sonderschulen profitieren würden. Einzelinklusion im Bedarfsfall, Partnerklassen und das Fortbestehen von Sonderschulen halte ich für die richtige Lösung.
Gibt es so etwas wie eine Erfolgsquote für eine Sonderschule, gemessen an Absolventen, die eigenständig leben können?Es gibt immer wieder Schüler, die den Eintritt in den so genannten ersten, den regulären Arbeitsmarkt schaffen und selbstständig wohnen. Aber es wäre vermessen zu sagen: Von unseren Schülern schaffen das zehn Prozent und deshalb sind wir eine gute Schule. Was möglich ist, hängt auch von den Individuellen Voraussetzungen des einzelnen ab. Wir werden jetzt eine Schülerin aufnehmen, die im Wachkoma ist. Auf der anderen Seite haben wir auch Schüler, die fast in einem Förderzentrum beschult werden könnten. Immense Bandbreiten. Ich hoffe, dass wir künftig noch besser auf die unterschiedlichen Bedürfnisse eingehen können. Das wäre in meinen Augen ein großer Erfolg.
Die Fragen stellte Hendrik Steffens