Kulmbach
Zeitreise

Kulmbach schrieb Geschichte: Dixie, Durst und DDR

Vor 30 Jahren eine Sensation: Warum sich für 500 Kulmbacher im Sonderzug nach Dresden schon 1988 der Eiserne Vorhang öffnete. Die Tagesreise war hochpolitisch und feucht-fröhlich.
Dixieland im Gesellschaftswagen mit der Old  Beertown Jazzband - von links: Walter Schleicher,  Bernd Meile, Udo Koch (†), Ruprecht   Konrad, Pit Meier und Konrad Fischer-Andreassohn.  Es fehlen Wolfgang "Mecki" Igler und Werner Beyerlein (†). Foto: privat
Dixieland im Gesellschaftswagen mit der Old Beertown Jazzband - von links: Walter Schleicher, Bernd Meile, Udo Koch (†), Ruprecht Konrad, Pit Meier und Konrad Fischer-Andreassohn. Es fehlen Wolfgang "Mecki" Igler und Werner Beyerlein (†). Foto: privat
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Um vier Uhr in der Früh fuhr der Zug vom Kulmbacher Bahnhof ab. Reiseziel Dresden, DDR. Damals, vor 30 Jahren, war die Sachsenmetropole an der Elbe für Otto-Normal-Bürger der BRD unbekanntes Terrain. So fremd wie eine Bahnstation hinter dem Ural. Kein Wunder, denn der Eiserne Vorhang teilte Deutschland von der Ostsee bis zum Frankenwald. Im Arbeiter- und Bauernstaat regierten Erich Honecker und die SED, die ihre Bürger eingemauert hatten.

Aber 500 Kulmbacher im Dixie-Express schafften es, dass die DDR-Stacheldrahtgrenze ein bisschen durchlässiger wurde. Als sich der Sonderzug am 6. November 1988 in Bewegung setzte, ahnte freilich keiner etwas von den epochalen Ereignissen, die nur ein Jahr später das Zeitalter des Kalten Kriegs beenden sollten.

"Der Anfang vom Untergang"

Der Fall der Mauer war noch undenkbar. Oder doch nicht? Der Keyboarder der Old Beertown Jazzband, Ruprecht "Doc" Konrad, erinnert sich an gewisse Vorahnungen. "Das war der Anfang vom Untergang der DDR. Dachten wir. Und bald danach kam auch die Wende", so der damalige Kulmbacher Kulturreferent, dessen Stelle inzwischen wegrationalisiert wurde.

Den Blick hinter die Mauer ermöglichte eine deutsch-deutsche Musikerfreundschaft, die 1987 bei einem Konzert im Kulmbacher Vereinshaus geschlossen worden war: zwischen der Kulmbacher Old Beertown Jazzband und der Dresdner Semper House Band mit Musikern der Staatskapelle Dresden und dem damals schon berühmten Opernsänger und TV-Entertainer Gunther Emmerlich.

Kulmbacher betraten Neuland

Die fränkischen Jazzer fassten den kühnen Plan, ihre Kollegen in Dresden zu besuchen. Daraus wurde ein kompletter Sonderzug, der für eine Tagesreise von West nach Ost fuhr. "So was gab es vorher nicht", sagt Stefan Schaffranek, dessen Reisebüro als eines der wenigen mit dem staatlichen Reisebüro der DDR zusammenarbeitete und einen enormen organisatorischen Aufwand zu schultern hatte.

Also Sponsor gewannen die Musiker die Reichelbräu. "Wir haben uns gern mit einem fünfstelligen Betrag beteiligt", so der damalige Brauereichef Gert Langer. "Wir waren sehr aktiv in der Kulturförderung, und es passte in unser Marketingkonzept: Reichelbräu verbindet."

Von der Stasi ständig überwacht

Die Stimmung im Zug war euphorisch, die Tagesreise hochpolitisch. Der Klassenfeind, der waggonweise anrückte, blieb nicht unbeobachtet. "Doc" Konrad fielen auffällig unauffällige Männer mit Jeans und grauen Lederjacken auf, die keiner kannte. "Wir wurden ständig überwacht", betont Beertown-Bassist Konrad Fischer-Andreassohn. Bereits in Kulmbach seien Stasi-Leute zugestiegen.

Nach den Grenzkontrollen in Gutenfürst - das Reisebüro mahnte per Lautsprecherdurchsage, zurückhaltend und höflich zu sein - wurde die Laune der Wessis immer besser. Denn inzwischen funktionierte auch die Heizung im Zug. Bei der Durchfahrt der DDR-Städte wie Plauen, Zwickau oder Chemnitz konnte sich Waldemar Straßer am Einheitsgrau der Häuser nicht sattsehen. "Hier könnte man Farbe verkaufen."

Sozialismus von der Schokoladenseite

In Dresden zeigte sich "der real existierende Sozialismus von seiner Schokoladenseite", wie die Bayerische Rundschau seinerzeit schrieb. Beim Besichtigungsprogramm wurde fast nichts ausgelassen, was Dresden als Kunst- und Kulturstadt berühmt gemacht hat.

Leider hatten nur zwei Dresdner Musiker Zeit, sich mit den Westfreunden zu treffen. Ein gemeinsames Konzert kam nicht zustande. "Es war nicht so, dass wir Angst hatten, wir waren dienstlich verhindert", erzählt Gunther Emmerlich. Er selbst habe Abschlussprobe in der Semper-Oper gehabt.

Die Kulmbacher sind bis heute überzeugt, dass hier die Stasi ihre Finger im Spiel hatte. Denn auch die Dresdner Jazzer standen unter Beobachtung. Scherzhaft meint der DDR-kritische Emmerlich: "Wir haben die Wende eingeleitet."

Abends stellten die Wessis fest, dass die Zeit in Dresden viel zu kurz war. Dafür wurde die Heimreise lang: Sechs Stunden spielte die Kapelle Dixieland, und das Reichelbier floss in Strömen. "Die Leute hatten einen Riesendurst. Wir waren aber vorbereitet. Das Edelherb ging uns nicht aus", berichtet Ex-Brauereichef Langer.

Schwerstarbeit im Gesellschaftswagen

Die Musiker verrichteten Schwerstarbeit "bei dem Geruckel und Gezuckel auf den Ost-Gleisen", so Fischer-Andreassohn, der am Zupfbass besonders standfest sein musste. Im Gesellschaftswagen konnte aber keiner umfallen, die Menschen standen dicht an dicht - wie in der DDR, wenn es Bananen gab. Alle waren, wie "Doc" Konrad bemerkt, "in gehobener Stimmung". Und vor allem: Alle kamen wieder zu Hause an.

Die Kulmbacher schrieben mit dem Sonderzug in die DDR Geschichte. Und nur ein paar Monate später war die ganze DDR Geschichte.

Kulmbach und der Osten

Schon vor dem Fall der Mauer ging das fränkische Kulmbach 1988 mit der thüringischen Stadt Saalfeld eine Partnerschaft ein. Allerhöchste Regierungskreise mussten dazu ihr Placet geben.

Nach der Wende unterstützte der Landkreis Kulmbach den Kreis Werdau in Sachsen, der im Landkreis Zwickau aufging. Die "Partnerschaft der leisen Töne", wie sie genannt wird, besteht nach wie vor.

Um die Musikerfreundschaft zwischen der Old Beertown Jazzband, Kulmbach, und der Semper House Band, Dresden, kümmert sich vor allem Konrad Fischer-Andreassohn: "Ich habe viel Kontakt, und es gibt regelmäßige private Besuche." Er organisiert auch die Moonlight-Serenaden (2019 am 30. Juni, Mönchshof-Gelände). Hier tritt inzwischen die Old Beertown Jazzband mit der New Semper House Band um Michael Winkler auf. Der Dresdner Posaunist und zwei weitere Gastmusiker kommen auch zur Jazz-Session am Sonntag, 11. November, ins Brauereimuseum (10 Uhr).

Kulmbach in den Achtzigern

Blazer mit Schulterpostern, weiße Tennissocken und Neonfarben - die achtziger Jahre waren bunt und schrill. Vielfach gescholten wegen des Mode- und Musikgeschmacks, brachte das Jahrzehnt für Kulmbach eine gute Zeit.

In der Stadt tobte das Leben, Wirtshäuser und Diskotheken gab es in großer Zahl, und die Kneipen waren voll. Die Kultur in Kulmbach erlebte eine Blüte mit Theater und Konzerten im Vereinshaus, mit der Veranstaltungsreihe Kulmbach in Concert in der Kleinkunstkneipe "Pinguin" oder mit der Künstlergruppe Randstein und der Old Beertown Jazzband, die damals gegründet wurden. Und Radio Plassenburg ging auf Sendung.

Die Fußballer des ATS Kulmbach und des TSV Trebgast spielten in der Bayernliga, seinerzeit die dritte Liga. Und Wolfgang Pirl (†) war einer der besten Brustschwimmer der Welt. Durch den Boykott des Westens verpasste er 1980 die Olympischen Spiele in Moskau.

Von demografischem Wandel oder Abwanderung war keine Rede. Über 1000 Menschen arbeiteten noch in der Spinnerei. In der Innenstadt gab es kein Ladensterben, ein Geschäft reihte sich an das andere.

Der Gentleman-OB

Die Menschen waren locker und liberal. Im Rathaus regierte Erich Stammberger. Unter der Regie des Gentleman-OB erhielt Kulmbach ein modernes Gesicht. Zu Beginn der Achtziger wurden Tiefgarage und Randbebauung des EKU-Platzes gebaut. 1985 wurde der Marktplatz autofrei, und 1988 nahm man die neue Stadthalle mit Tiefgarage in Betrieb.