Auf Nachtschicht im Altenheim mit Pflegerin Anja

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Die beiden Puppen, die vom Sofa aus in den nächtlichen Speiseraum blicken, passen zu dem kindlichen Verhalten, das manch demenziell erkrankter Mensch zeigt. Fotos: Steffens
Die beiden Puppen, die vom Sofa aus in den nächtlichen Speiseraum blicken, passen zu dem kindlichen Verhalten, das manch demenziell erkrankter Mensch zeigt. Fotos: Steffens
Foto: Steffens
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Der Bewohner auf A5 verstopft den Abfluss mit Klopapier, A9 muss gelagert werden und A3 fragt nach ihrem lang verstorbenen Ehemann. Auf Nachtschicht im BRK Seniorenhaus Kronach.

Ihren Joghurt will die Bewohnerin aus Zimmer A 3 jetzt doch nicht. Die zierliche Seniorin wedelt mit den Armen, dreht den Kopf weg und verzieht den Mund. "Ich hab' keinen Hunger" murmelt sie immer wieder. Nur Minuten nachdem sie gefordert hat, sie wolle genau jetzt etwas essen. Pflegerin Anja beugt sich über die Rollstuhllehne und spricht leise und beruhigend auf die alte Frau ein, die sich wie ein Kleinkind verhält. Irgendwie passend zu den zwei Stoffpuppen, die links von ihr auf der Couch sitzen und in den leeren Speisesaal lächeln. Die Bewohner, die hier in der Hausgemeinschaft des BRK-Seniorenhauses leben, sind dement.



Oben sind die "leichten" Fälle untergebracht, die noch ganz gut allein klar kommen. Im ersten Stock wohnen die "mittelschweren" Fälle. Und wer im Erdgeschoss ein Zimmer hat, befindet sich im Endstadium der Demenz. So wie Bewohnerin A3. Die Frau, die im Minutentakt erst meckert, dann lobt und wieder entsetzlich traurig wird, sitzt in ihrem Rollstuhl im leeren Speisesaal und fragt nach ihrem Ehemann. "War der Emil da? Ich war noch nie so durcheinander..." Alltag in der Nachtschicht von Schwester Anja. Die Frau mit dem dunklen Zopf und hellblau-weißen Pflegerdress kümmert sich seit 20 Jahren um Menschen, die ohne Hilfe nicht mehr durch den Alltag kommen.


Die wohl letzten Kunstwerke von A 5
Manchmal arbeitet sie nachts - in dieser Woche dreimal, heute ist die zweite Nachtschicht am Stück. Sie bringt die verwirrte, jammernde Frau zurück auf A3. Sicher nicht zum letzten Mal in dieser Nacht. Bekommt man da Angst, mal in einer ähnlichen Situation zu sein? "Klar, dement möcht" ich nie werden. Aber man kann seinem Schicksal nicht entgehen, muss es annehmen, wie es ist. Dennoch haben unsere Bewohner trotz Ihrer Erkrankung eine sehr hohe Lebensqualität". Der Lebensraum Hausgemeinschaft ist speziell für demenziell Erkrankte gestaltet, sodass eine möglichst gute Orientierung und Betreuung jederzeit gewährleistet ist. Als Alternative wäre die Versorgung zu Hause eine 24 Stunden-Aufgabe für die Angehörigen, welche in der Regel kaum leistbar ist.

Im Flur ist alles ruhig. An den Wänden hängen Fotos aus Jugendzeiten einiger Bewohner, ein Puppenwagen steht in einer Nische. Über der Tür von Zimmer A 5 blinkt ein Lämpchen. "Herr Müller, was magstn?", fragt Schwester Anja und beugt sich durch den Türrahmen. Drinnen riecht es nach Lufterfrischer, im Bad läuft Wasser. Ein kleiner dünner Mann steht da und stopft Klopapier in den Waschbeckenabfluss.

Schwester Anja wirkt nicht überrascht. Sie nimmt ihn sanft am Arm, führt ihn in sein flaches Bett zurück und
befreit den Abfluss. "Er war früher mal Künstler. Als er herkam, spielte er den ganzen Abend Mundharmonika", sagt sie und lächelt. Jetzt, in diesem schweren Stadium der Demenz, ist von dem Musiker mit Hornbrille, Weinglas und Seemannsmütze, der von dem Foto im Gang grinst, nicht mehr viel übrig. Er wimmert leise beim Zubettgehen. Seine letzten Kunstwerke werden wohl die im Abfluss bleiben.


Damit niemand vergessen wird
155 Pflegeplätze hält das BRK Seniorenhaus Kronach vor. Für Menschen, die ohne dauerhafte fremde Hilfe und Unterstützung nicht leben könnten. Viele von ihnen sind dement oder haben andere Leiden: Inkontinenz, Diabetes, Depression. "Es ist anders als früher. Fast niemand kommt mehr, nur um eine ruhigere Rentenzeit zu haben", weiß Schwester Anja. Das liegt wohl auch an der relativ hohen Selbstbeteiligung, die in Altenheimen anfällt. Die meisten Pflegebedürftigen bleiben daheim, solang es geht, denn je nach Schwere der Pflegebedürftigkeit kostet ein Heimplatz zwischen 1700 und 2000 Euro.

Kurz vor Mitternacht schlafen die meisten Gäste. Schwester Anja bleibt Zeit, sich im Schwesternzimmer einen Überblick zu verschaffen. Hier hat sie ihre Aufgabenlisten, auf denen sie sieht, wer noch seine - ausschließlich ärztlich verordneten - Medikamente braucht oder von der Seite auf den Rücken gedreht werden muss. Sie zeichnet Kästchen für Kästchen, Zimmer für Zimmer präzise ab.

Dokumentation ist wichtig, damit kein Bewohner vergessen wird. Was möglich ist, wird am Tage vororganisiert. "Wir schauen, dass uns nachts viel Zeit für den Dienst am Menschen bleibt", sagt Schwester Anja. Das trifft wohl auch ihre Motivation, diesen Beruf zu ergreifen. "Wir haben in der eigenen Familie viel mitgemacht und wissen, wie viel gute, menschliche Pflege wert ist." Man glaubt ihr, wenn sie sagt, dass dieser Beruf für sie auch Berufung sei.

Oft tönt Kritik an den Nachtwachenschlüsseln in Altenheimen. Die Kräfte seien überfordert, die Gäste unterversorgt. Eine Verordnung des Gesundheitsministeriums soll hier für eine Verbesserung sorgen. "Die Arbeit ist anspruchsvoll aber erfüllend. Technik macht es leichter, die Menschen hier gut zu betreuen", sagt Schwester Anja. Sensormatten vor den Betten unruhiger Gäste und Warnsysteme an den Ausgängen erleichtern es, die Sicherheit zu gewährleisten. Dann surrt das Diensthandy wieder. "A3 kommt heute wohl nicht mehr zur Ruhe."