Der Fotograf Robert Schlaug aus Roth hat einen ungewöhnlichen "Reiseführer" geschrieben. Die Bilder zeigen das hässliche Bayern.
Deutschland schafft sich ab - das ist nicht nur eine politische These aus der rechten Ecke. Das Land wird buchstäblich weniger, messbar sogar: In jeder Sekunde verschwinden in Deutschland acht Quadratmeter Land unter Beton und Asphalt. Ginge der Flächenverbrauch in diesem Tempo weiter, würde es in 1116 Jahren kein Feld und keinen Wald mehr geben, nur noch Straßen, Parkplätze, Wohn- und Gewerbegebiete ...
Der Bodenzähler tickt
Diese Zahlen spuckt der "Bodenzähler" des Braunschweiger Diplomingenieurs Frank Schröter aus, der über ökologische Raumplanung forscht und lehrt. Die Internetseite dokumentiert ähnlich wie die "Schuldenuhr" die Diskrepanz zwischen dem erklärten politischen Willen zu nachhaltigem Wirtschaften und dem krassen Gegenteil in der Realität: Obwohl die Bevölkerung schrumpft, beansprucht das Land immer mehr Grund und Boden; aktuell sind es mehr als 70 Hektar - sieben Millionen Quadratmeter - im Jahr.
Laut Schröter sind 49 000 Quadratkilometer der Bundesrepublik bebaut, 14 Prozent der Gesamtfläche. In Bayern liegt der Anteil der Siedlungs- und Verkehrsflächen mit 11,3 Prozent unter dem Bundesdurchschnitt - doch der Freistaat holt auf.
18 Hektar am Tag
Der Bund Naturschutz weist Bayern einen Spitzenplatz beim Flächenverbrauch zu. "Jeden Tag verschwinden im Freistaat 18 Hektar Land, das entspricht 25 Fußballfeldern", sagt der Landesbeauftragte des BN, Richard Mergner (Nürnberg). Er bezeichnet den "Flächenfraß" als eines der "größten ungelösten Umweltprobleme".
Mergner hat das Vorwort zu einem Bilderbuch geschrieben, das aus dem Rahmen fällt: Der Fotograf Robert Schlaug aus Roth präsentiert 128 Fotos von Bayerns "Schattenseite" - statt der heilen Welt des Gästeprospekts zeigt der Mittelfranke einförmige Siedlungen, versiegelte Flächen für Industrie und Gewerbe, Straßen, Parkplätze.
Nun kann man dem Fotografen entgegen halten, dass das, was er zeigt, dem Fortschritt geschuldet ist; und dass die Dörfer und Städte auch in der "guten alten Zeit" nicht nur schön waren.
Unverbindliche Zahlenspiele
Auf der anderen Seite treffen die kommentarlos abgedruckten Bilder, die der Ödnis sogar eine gewisse Ästhetik abgewinnen, den Nerv. Die Umweltministerien in Land und Bund haben das Flächensparen zum Staatsziel erklärt. Während man sich auf Bundesebene auf konkret unverbindliche Zahlen geeinigt hat (ab 2020 sollen täglich nur noch 30 statt aktuell 72 Hektar Land verbraucht werden), bleibt es in Bayern beim guten Willen.
Immerhin: 2003 haben Staatsregierung und Kommunen das "Bündnis zum Flächensparen" ins Leben gerufen. Damals wurden in Bayern 17,3 Hektar Land pro Tag bebaut. 2010, nach sieben Jahren Flächenspar-Bündnis, waren es 20,8 Hektar!
Die Staatsregierung reagierte prompt und änderte den Schlüssel zur Berechnung des Flächenverbrauchs. So gelten jetzt unter anderem erschlossene, aber noch nicht bebaute Siedlungsflächen als "Unland", sie wanderten in der Statistik zurück zur Natur. Diese Maßnahme hatte Erfolg: 2013 verbrauchte Bayern nach der neuen Statistik nur 12,6 Hektar Fläche pro Tag; nach der alten Zählart aber 18,1 Hektar.
Die Staatsregierung gibt das Flächensparen nicht auf, setzt aber in der "Strategie Heimat 2020" von Finanzminister Markus Söder (CSU) andere Schwerpunkte: "Wir brauchen eine Methode der Landesentwicklung, die flexibel und modern ist." Konkret will Söder bei der Erschließung neuer Bauflächen nicht nur nicht auf die Bremse treten, sondern die Ausweisung sogar noch erleichtern.
Abschied vom Anbindegebot?
Der Heimatminister will das "Anbindegebot" lockern. Es besagt, dass neue Gewerbeflächen nur erschlossen werden dürfen, wenn sie an bestehende Baugebiete anschließen. Söder will Projekte auf der grünen Wiese generell zulassen, wenn sie Anschluss an Fernstraßen haben.
Es hagelt Proteste. Nicht nur die Naturschützer laufen Sturm; Kommunalpolitiker fürchten einen ruinösen Wettbewerb um die Ansiedlung von Betrieben. So verweist Stefan Göcking (SPD), Bürgermeister im oberfränkischen Arzberg darauf, dass es vielerorts Leerstände gibt, nicht nur in den Ortskernen. "Es macht da doch keinen Sinn, noch mehr auszuweisen."
Der Streit geht weiter; der Bund Naturschutz wirft Söder gar einen Verstoß gegen die Verfassung vor. "Artikel 141 verpflichtet den Staat, Landschaft und Boden als Lebensgrundlage zu erhalten", sagt Mergner. Stattdessen fördere die Regierung die Zersiedelung. Söder hält dagegen: Bayern brauche "Macher statt Mahner".
Schröters Flächenuhr tickt derweil weiter. Es dauert etwa 15 Minuten, die Artikel auf dieser Seite zu lesen. In dieser Zeit wurden in Deutschland 7200 Quadratmeter Natur betoniert.
Kommentar: Umdenken - jetzt!
Wer den Flächenfraß buchstäblich erleben will, unternimmt am besten eine Reise in den Norden oder Osten der Bundesrepublik. Da fressen sich die Schaufeln gigantischer Bagger durch das Land, um Braunkohle zu fördern. Ganze Dörfer verschwinden.
Der alltägliche Flächenfraß hat weit größere Dimensionen als Garzweiler und Co., und trotzdem findet er nahezu unsichtbar statt. Ein Gewerbegebiet hier, neue Straßen dort, kaum Zweifel an der Notwendigkeit oder gar Nachdenken über Alternativen. Man muss nicht das grüne Gewissen befragen, um im Bauwahn einen Irrweg zu sehen. Schon heute sind viele Gemeinden mit der Erhaltung und Erneuerung ihrer Infrastruktur überfordert. Bundesweit gibt es einen milliardenschweren Investitionsstau, weil Straßen und Brücken in die Jahre kommen und saniert werden müssen.
Diese Aufgaben muss künftig eine kleiner werdende Gesellschaft mit mehr Rentnern und weniger Menschen in Arbeit stemmen. Deshalb ist der Ruf nach Nachhaltigkeit keine Öko- oder Sozialromantik. Ohne Nachhaltigkeit werden auch im ländlichen Franken viele Kommunen nicht überleben, weil das "Weiter so" schlicht unbezahlbar wird.
Längst gibt es Modelle für neue urbane Strukturen selbst in den kleinsten Dörfern, die Wohnen, Arbeiten und Freizeit wieder näher zusammenbringt. Und so Land und Geld und Energie spart und Leben in die Schlafsiedlungen bringt. Früher ist man auf dem Land zusammengerückt, weil man sich riesige Flächen und weite Wege gar nicht leisten konnte. Es war nicht alles gut an der alten Zeit, aber dieses alte Gesellschaftsmodell verdient es, wieder modern zu werden.
Leseraktion: Bitte hässliche Fotos !
Grüne Wälder, verschneite Hügel, romantisches Fachwerk: Wer (sich) ein Bild von Franken macht, denkt meist die Schokoladenseite. Es gibt aber auch die verfallenden Ortskerne, lieblos geplante Siedlungen und Gewerbegebiete, Kahlschlag auf der Obstwiese ... Wenn Sie solche Schattenseiten Frankens entdecken, halten Sie sie im Bild fest. Die Veröffentlichung kann vielleicht der erste Anstoß für eine Veränderung zum Positiven sein. Schicken Sie Ihre Fotos an
leserreporter@infranken.de, Stichwort "Schattenseite"
Dass Markus Söder "bei der Erschließung neuer Bauflächen nicht nur nicht auf die Bremse treten, sondern die Ausweisung sogar noch erleichtern" will bereitet mir als umweltbewusstem Mensch Sorgen. "Wir brauchen in Bayern Macher, keine Mahner", verkündet er, aber das halte ich für falsch. Wir leben bereits in einer Welt von besinnungslosen Machern und wie sieht unsere Welt heute aus? Geschunden, zerbombt, von Millionen von Menschen geflüchtet. Söder strebt auf das Amt des Ministerpräsidenten zu. Ja, Bayern glänzt, aber Bayern ist klein und privilegiert in Mitteleuropa und der westlichen Welt. Söder ist so dominant und rücksichtslos, wer stoppt diesen Mann?
70 Hektar sind keine 7 Millionen Quadratmeter, dies wären 700.000 m²
Der "Bodenzähler" nennt ca. 70 ha Flächenverbrauch pro Tag und nicht die völlig verharmlosenden 70 ha pro Jahr wie fälschlicherweise im Artikel angegeben wird.
Den Berechnungsschlüssel zu ändern, kann zwar den Blick trüben, nicht aber die Realität zum Besseren wenden. Was letzteres betrifft, verfolgt die bayerische Staatsregierung gar keine diesbezüglichen Absichten.
Nach wie vor ist Bayern einer der Treiber beim ungehemmten Straßenneu- und -ausbau. Überdies wurden Absichten laut, durch Änderung des Planungsrechts das Bauen in die freie Landschaft zu erleichtern. Und beinahe jeder Bürgermeister wünscht sich seine eigene Miniautobahn (Ortsumfahrung), seinen "Regionalflughafen / Landeplatz", neue Gewerbegebiete in der freien Landschaft.
Eine Trendwende hin zu rationaler Politik ist noch lange nicht zu erkennen.
Nur leider werden wir Bürger nie dazu gefragt ob wir das alles brauchen/wollen