Beobachter sehen nun eine ähnliche Gefahr: Durch das von der Übergangsregierung festgelegte Verfahren könnte sich auch das neue Parlament zum Großteil aus Regierungstreuen zusammensetzen.
Die Übergangsregierung ihrerseits verweist als Begründung für ihr Vorgehen auf die Millionen Binnenflüchtlinge und Vertriebenen, von denen viele keine gültigen Ausweispapiere besitzen. Zudem sind große Teile des Landes verwüstet, Treibstoff und Strom knapp, ganze Städte zerstört. Unter diesen Bedingungen sei eine landesweite Abstimmung nicht durchführbar.
Al-Scharaa selbst werde die von ihm zu bestimmenden Sitze zudem nutzen, um «Lücken bei der Repräsentation» zu schließen, teilte die Wahlbehörde mit. So solle beispielsweise gesichert werden, dass sowohl genügend Frauen als auch Minderheiten im Parlament vertreten seien.
Wie repräsentativ ist die Wahl?
Der fast 14-jährige Bürgerkrieg in Syrien hat das Land tief gespalten. Aus Sicherheitsgründen, wie es von den Behörden hieß, wurde die Wahl in mehreren Provinzen verschoben. In der südlichen Provinz Suwaida sowie in Teilen der nordöstlichen Provinzen Hasaka und Rakka solle sie zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden. Wie diese Gebiete im neuen Parlament vertreten werden, bleibt abzuwarten.
Die Provinzen Hasaka und Rakka stehen unter der Kontrolle der kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). In Suwaida in Südsyrien ist die drusische Gemeinde beheimatet. Die Beziehungen der Kurden und auch der Drusen zur syrischen Regierung sind angespannt. Erst im Juli kam es in Suwaida zu tödlichen Auseinandersetzungen zwischen drusischen Milizen und sunnitischen Stammesgruppen, die von der Regierung in Damaskus unterstützt wurden.
«Die bevorstehenden Wahlen lassen keine Anzeichen für einen echten Wandel in Syrien erwarten», sagte der SDF-Sprecher Farhad al-Schami der Deutschen Presse-Agentur vor der Abstimmung. Das Vertrauen der Kurden in die neuen Machthaber sei gering.
Wie blickt die Bevölkerung auf die Wahl?
Syriens Bevölkerung blickt mit gemischten Gefühlen auf die Wahl. Nach Jahrzehnten einer autoritären Herrschaft hoffen viele auf einen ersten Schritt in Richtung Demokratie.
Andere üben Kritik. Das Wahlsystem basiere nicht auf Kompetenz, sondern auf persönlichen Kalkülen, sagte ein Anwohner in Aleppo. «Wir haben uns von der Einheitsliste der Baath-Partei befreit, nur um nun einer Kleingruppen-Politik zu verfallen», sagte Abdulasis Chalaf. Weitere befürchten, Syriens Politik könnte ähnlich wie zuvor von Rivalitäten untereinander geprägt sein, bei denen qualifizierte Kandidaten ausgeschlossen würden, nur weil sie den falschen Gruppen angehörten.
Welche Bedeutung hat die Wahl trotzdem?
Trotz aller Mängel sehen Experten die Wahl als notwendigen Zwischenschritt nach mehr als einem Jahrzehnt Bürgerkrieg. International wird der Prozess - insbesondere mit Blick auf die Repräsentanz von Minderheiten - genau beobachtet. Ob in Syrien nun ein langfristig demokratischer Wandel in Gang gesetzt werden kann, hängt jedoch vor allem von künftigen Reformen und möglichen anschließenden freien Direktwahlen ab.
Präsident al-Scharaa sprach von einem «historischem Moment». Alle Syrer müssten zusammenhalten, um ihr Land wieder aufzubauen. Es gebe noch viele ausstehende Gesetze, über die abgestimmt werden müsse, um den Wiederaufbau voranzutreiben.