Das heißt: Kopf und Geist müssen gemeinsam entscheiden?
Müller: Der ganze Kerl. Oder die ganze Frau. In der Tiefenpsychologie würde man sagen: Das Selbst. Das Gefühl oder die Berufung müssen aber auch immer auf der ganz realen Ebene abgeklärt werden. Irgendwann muss ich das Kreisen um mich selbst verlassen und mich aufmachen, den anderen zu entdecken.
Und wenn nicht?
Müller: Dann verzichte ich darauf, meine Motive genau unter die Lupe zu nehmen. Bei manchen Priestern stellt sich irgendwann heraus, dass es nur deshalb verlockend für sie ist, zölibatär zu leben, weil sie so ihre Unfähigkeit zur Intimität quasi heilig sprechen können.
Eine so wichtige Entscheidung kann also auch eine Flucht sein?
Müller: Klar. Vor den eigenen Gefühlen, vor schwierigen Auseinandersetzungen.
Wann habe ich denn genug Lebenserfahrung gesammelt?
Müller: Eigentlich erst mit 40. Die Zeit vorher brauche ich für meine Ich- und Du-Findung.
Ohne eine Portion Lebenserfahrungen, ohne Rückschläge, sollte eine so essenzielle Entscheidung besser nicht getroffen werden?
Müller: Besser nicht. Vor einer Ehe sollten sich beide Partner darüber klar sein, was für einen Menschen sie brauchen, um ein Leben lang mit ihm oder ihr leben zu wollen. Bei Priesteramtskandidaten hat sich zum Glück vieles verändert. Früher waren sie fast kaserniert, heute müssen bzw. dürfen sie ins Freisemester gehen, um sich mit der Welt außerhalb des Priesterseminars auseinanderzusetzen, sofern sie das nicht schon vorher getan haben. Die meisten Priesteramtskandidaten sind heute älter als früher und verfügen auch über Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Das finde ich gut.
Fast jeder kommt irgendwann an einen Punkt des Zweifels und fragt sich, ob die Entscheidung die Richtige war. Was tun?
Müller: Zunächst einmal: Das ist das Normalste von der Welt. Eine einmal getroffene Entscheidung ist nichts Statisches. Man muss immer wieder schauen, ob die Ursprungsidee noch am Leben ist. Krisen gehören dazu und sprechen sogar für eine Beziehung.
Wieso? Je harmonischer ein Zusammenleben, desto besser ist doch die Beziehung?
Müller: Ich will nicht ausschließen, dass es tatsächlich harmonische Ehen gibt. Aber Harmonie kann auch Widerstand sein. So nach dem Motto: Ich traue mich nicht zu sagen, was mir nicht passt. Und so arrangieren wir uns in einer Partnerschaft, gehen aber aneinander vorbei.
Und was bringt eine Krise?
Müller: Bei einer Krise knallt es. Und zwar richtig. Der Vorteil: Man berührt sich wieder, redet miteinander. Eine Krise bedeutet nichts anderes, als dass irgendwas falsch gelaufen ist. Die Grundfrage dahinter kann sein: Gibt es in unserer Beziehung etwas, das ich ändern möchte? Oder standen äußere Umstände hinter der Entscheidung, zu denen ich nicht mehr stehen kann?
In diesen Fällen kann ich ein einmal gegebenes Ja auch wieder zurücknehmen?
Müller: Ich muss manchmal eine Lösung finden, die auch anderen weh tut, weil ich mir sonst untreu werde, mich verrate. In der Psychologie sprechen wir von existenzieller Schuld. Das kann manchmal auch heißen, dass ich ein Jawort auch wieder zurücknehmen muss.
Kein einfacher Schritt.
Müller: Nein, da gehört viel Mut dazu. Deshalb habe ich auch großen Respekt vor Priestern, die nach einer reiflichen Überlegung den Mut haben, diesen Weg aufzugeben.
Aber vorher sollte doch alles unternommen werden, um sich ganz sicher zu sein?
Müller: In Frustrationsphasen sollten wir tatsächlich nicht zu schnell aufgeben, uns genau überlegen, wovon wir überzeugt sind. Wenn ich von einer Sache oder einem Menschen überzeugt bin, lasse ich mir auch etwas einfallen, um Krisen zu überwinden.
Wie reagiert die Kirche, wenn Priester ihr Gelübde auflösen?
Müller: Da hat sich in den letzten Jahren zum Glück vieles verändert. Ich wünsche mir aber, dass die Kirche so einen Schritt nicht nur akzeptiert, sondern auch die Wahrhaftigkeit, das echte Ringen, das oft damit einhergeht, würdigt.
Die Kirche soll es würdigen, wenn ein Priester seine ewige Profess auflöst?
Müller: Sehen Sie, ich muss als Priester ja auch meiner Seele und letztlich Gott gegenüber treu bleiben. Wenn ich merke, dass ich ihr untreu werde, muss ich mich lossagen. Unser Papst ist wunderbar, aber für mich bleibt ein fahler Geschmack, wenn ich Personen zuerst zu Menschen deklarieren muss, die der Barmherzigkeit bedürfen, um sie annehmen zu können.
Viele Personen erwarten von ihrer Kirche, dass sie ihnen auf Augenhöhe begegnet, die Kirche ihr ernsthaften Ringen, ihre Wahrhaftigkeit, ernst nimmt, die ja oft auch zum Scheitern führten.
Wie reagieren die Mitbrüder im Kloster, wenn ein Mönch doch wieder austreten will?
Müller: In der Regel sind sie bereit hinzuhören, versuchen, ihn zu verstehen. Sie geben ihm Zeit, führen Gespräche. Bleibt es bei der Entscheidung, gibt es freilich unterschiedliche Reaktionen. In Münsterschwarzach sind schon zweimal ehemalige Mitbrüder nach einigen Jahren mit ihren Partnern eingeladen worden. Das waren bewegende Momente.
Ist dieses Vorgehen übertragbar auf die Ehe?
Müller: Klar, in Eheberatung schauen wir auch, wie ein Abschied laufen kann, eventuell sogar eine Versöhnung.
Kommentar - Ja zum Ja
Von unserem Redaktionsmitglied
Robert Wagner
„Ja, aber...“ Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist nicht mehr nur in den Vereinigten Staaten zu finden, sondern auch bei uns in Deutschland. Die Moderne zeichnet sich dadurch aus, dass jeder jederzeit die Wahl hat. Wein oder Bier, Bio oder Industriell, Links oder Rechts. Festlegen möchte sich der moderne Mensch nicht – vielleicht gönn' ich mir nach der Maß ja doch noch einen Schoppen.
Was jetzt richtig ist, kann morgen falsch sein. Und ganz allgemein: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Die Freiheit, frei wählen zu können, was ich essen, was ich tun und mit wem ich meine Zeit verbringen will, ist sicher eine große Errungenschaft unserer Zeit. Ja, aber...
Verloren gegangen ist die Einsicht, dass auch eine Entscheidung befreiend sein kann.
Dass das Wissen, dass ich mich für etwas entschieden habe, mich mit dieser Entscheidung in Einklang bringen kann. Ein „Ja“ vor dem Traualtar ist eben mehr als ein einfaches „des bassd scho.“ Es ist die Überzeugung: Was nicht passt, wird passend gemacht. In der kirchlichen Lehre wurde mit den Begriffen „Gelübde“ und „Berufung“ da Verbindlichkeit geschaffen.
Daraus abzuleiten, dass eine Entscheidung ewig Bestand haben muss, ist allerdings Unsinn. Zu viel kann passieren, zu viel kann sich ändern. Und da liegt das Versagen der Kirche in der Moderne: Sie hat viel zu lange auf der Ewigkeit von Lebensentscheidungen beharrt. Genau hier liegt der positive Aspekte bei Wunibald Müllers neuem Buch:
Lebensentscheidungen sollten weder absolut, noch völlig beliebig sein. Sie sollten voller Überzeugung getroffen werden. Dann bleiben sie auch dann richtig, wenn sie sich im Nachhinein als falsch herausstellen. Und deshalb: Ja zum Ja!