Sie sorgen dafür, dass niemand Hunger leidet

Das Lächeln ihrer Augen kommt von Herzen. Doch ihre Hände sagen "Halt". Das hier ist kein gewöhnlicher Supermarkt, und Ortrud ist keine Verkäuferin.
"Wir sind eine super Tafel." Und das sagt die 73-Jährige aus voller Überzeugung. Nach 46 Jahren Arbeitsleben könnte die Frau mit den kurzen, grauen Haaren und ihren Lebensabend genießen, mit Freundinnen Kaffee trinken oder auf Kreuzfahrtschiffen die Welt bereisen. Doch die rüstige Seniorin steht lieber bis zu sechs Stunden am Tag in der Coburger Tafel und gibt Essen an Bedürftige aus.
Ihr Hoheitsgebiet ist die Molkereiabteilung, über das die Witwe mit Argusaugen wacht. Neben den schnell verderblichen Milch- und Joghurtprodukten muss Ortrud auch die haltbaren Lebensmittel - Mehl, Öl, Zucker, Brotaufstriche - rationieren.Bedürftig sind alle ihrer Kunden, doch auch hier manche mehr als andere. "Nein, Sie haben schon eine Marmelade bekommen", sagt Ortrud also bestimmt zu einer alleinstehenden Frau, die nach dem letzten Glas Nougatcreme greift. Die Finger der Rentnerin sind flinker.
Helfer suchen Helfer
Rund 45 Ehrenamtliche in der Tafel sorgen dafür, dass niemand Hunger leiden muss. Die Helfer sind selbst ein Querschnitt der Gesellschaft: alleinerziehende Mütter, die den Papa-Tag nutzen, um vor der Arbeit noch zwei Stunden Gemüse zu putzen. Menschen mittleren Alters, die aufgrund eines körperlichen Handicaps auf dem Arbeitsmarkt keinen Fuß fassen und in der Tafel Kisten schleppen.
Hartz-IV-Empfänger, die nicht untätig zuhause sitzen wollen. Juristen, die Lebensmittel sortieren.
Und Senioren wie Ortrud, die noch zu fit sind um "bloß" Rentner zu sein. "Niemand ist hier überflüssig", betont Jürgen Kroos von der Tafel. "Wir können immer Hilfe gebrauchen, sei es für die Essensausgabe, dem Sortieren der Lebensmittel oder um an der Kasse zu sitzen." Je mehr helfen, desto weniger hat jeder Einzelne zu tun.
"Jeder findet hier jemandem, mit dem er zurecht kommt. Das gefällt mir hier so", sagt Ortrud. Die 73-Jährige kam vor sechs Jahren in die Tafel, zwei Monate nachdem ihr Mann gestorben war. "Wir waren 48 Jahre lang verheiratet." Die Goldene Hochzeit war dem Paar nicht vergönnt, die beiden Kinder sind längst aus dem Haus. "Manchmal", sagt Ortrud, während sie gerade auf den nächsten Kunden wartet, "ist der Tod eine Erlösung. Und ich wollte nach seinem Tod in kein Loch fallen." Die älteste Helferin sei 80 Jahre alt. Das, sagt Ortrud, will sie mindestens auch schaffen. Und wer sie erlebt, hat keinen Zweifel daran, dass ihr das gelingt.
Inzwischen ist es Nachmittag, die Vorräte gehen allmählich zur Neige. Von der Nougatcreme hat Ortrud nur noch ein Glas übrig, und sie achtet darauf, dass es die Familie mit sieben Kindern bekommt und nicht die Single-Frau. "Da kommt immer ein junger Mann, der Lebensmittel für einen Neun-Personen-Haushalt holt. Wahrscheinlich der große Bruder", vermutet die Seniorin. Genau weiß sie das nicht. "Wir kennen keine Namen, nur Nummern und Gesichter. Das geht uns auch gar nichts an."
Das bedeutet aber nicht, dass Ortrud und die anderen Helfer nichts über die Menschen wissen, die in die Tafel kommen. Im Gegenteil: Sie merken sich, dass die syrische Familie kein Schwein isst, also bekommt sie Hähnchen. Sie wissen, dass der allein stehende Rentner gerne Thunfisch isst und nicht so schwer schleppen kann und dass sich der russische Herr über eine große Packung Eier für seine sechs Kinder freut. "Ich bin jedes Mal gerne hier", sagt er, als ihm Ortruds Nebenmann Marcel (34) die Großpackung direkt entgegenstreckt. "Alle sind so freundlich."
Auch wenn es sich für die Bedürftigen wie ein Schlaraffenland anfühlt, wo jeder Wunsch erfüllt wird - Hauptsache lecker: Es gibt kaum Fertigprodukte, stattdessen so viele frische Lebensmittel wie möglich. Für einen Obolus von 2,50 Euro bekommt eine vierköpfige Familie einen vollen Einkaufswagen. "Im Supermarkt würde man dafür über 100 Euro zahlen.", erklärt Ortrud. "Genau das ist der Grund, warum wir nicht zu spendabel sein dürfen. Gerade wenn Kunden neu sind, müssen wir hart bleiben, damit niemand zu gierig wird." Ihre ernste Miene erhellt sich. "Und wenn sie das verstanden haben, dürfen wir auch herzlich sein."
Woran sie erkennen, das jemand neu ist? "Diese Kunden haben meist zu wenig Taschen dabei", meint Marcel und grinst. Etwa 200 Bürger haben den Coburg-Pass vom Sozialamt, der sie berechtigt, in der Tafel einkaufen zu gehen. Rechnet man Ehepartner und Kinder dazu, ergibt das rund 500 Bedürftige. "Wir haben Aufstocker. Junge Menschen, die voll berufstätig sind und denen das Geld nicht reicht oder alte Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben und nicht von ihrer Rente leben können", berichtet Ortrud. "So etwas dürfte nicht sein."
Auf der anderen Seite fährt regelmäßig ein junger Mann im noblen Mercedes vor, der seinen Bedarfsausweis vorzeigt und in der Tafel einkauft. Ortrud urteilt nicht. Das, sagt sie, wäre müßig. Lieber freut sie sich darüber, wenn ihr eine Kundin aus Dankbarkeit eine Tafel Schokolade mitbringt. Ablehnen könne sie so ein Geschenk nicht. "Diejenigen, die am Wenigsten haben, geben am meisten. Das war schon immer so."