In den vergangenen Jahrzehnten hat die Tschernobyl Kinderhilfe Neustadt schon mehr als 400 Kinder zur Erholung für einige Wochen nach Deutschland geholt.
30 Jahre ist es her, dass der Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl explodierte. Seither hat sich an der Strahlenbelastung in einem Gebiet von etwa 162 000 Quadratkilometern wenig geändert. Die Not der Menschen ist eher noch größer geworden. Grund genug für Dieter Wolf und seine Mitstreiter vom Verein Tschernobyl Kinderhilfe in Neustadt auch in ihrer Hilfe nicht nachzulassen. Gerade sind sie von ihrer vierzigsten Reise in die Katastrophenregion zurück. Sie bringen eine Liste mit Namen von Kindern mit, die sie im kommenden Jahr zur Erholung nach Franken holen wollen - und sie bringen Eindrücke mit, die anrühren und erschüttern zugleich.
"Um in diesen betroffenen Regionen den oftmals schon vergessenen Opfer der Tschernobylkatastrophe langfristig zu helfen, hat unser Vorsitzender Dieter Wolf vor 20 Jahren unsere Tschernobyl-Kinderhilfe ins Leben gerufen.
So konnten sich in den vergangenen 20 Jahren insgesamt 410 Kindern aus den verstrahlten Gebieten der Ukraine in der Region vier Wochen lang bei uns erholen", sagt Bettina Schwirz, die mit Wolf diesmal in der Ukraine unterwegs war.
Helfer vor Ort unentbehrlich
Wolf und seine Helfer gehen nicht planlos vor. "Vorschlagslisten besonders bedürftiger Kinder, werden für uns von der jeweiligen Schule und dem Dorfrat erstellt", erklärt der Vorsitzende. Die Familien werden dann besucht. "Die Eltern und Kinder können uns somit kennen lernen und wir machen uns ein Bild von den einzelnen Lebensumständen der Kinder, um die bedürftigsten auszuwählen. Konfrontiert werden wir mit Armut, Schmutz und Hoffnungslosigkeit und viel zu oft Eltern, die im Alkohol Zuflucht gefunden haben", berichtet Dieter Wolf.
Valentina die Schuldirektorin von Visock holt die Deutschen am Flughafen in Kiew ab.
"Mitten in der Nacht kommen wir am Zielort an und werden von vielen Freunden und Bekannten begrüßt. Auch Vika ist da, eines unserer Gastkinder von diesem Sommer. Sie ist extra mit Ihren Eltern ins Dorf gekommen und hat auf uns gewartet. Wir werden von ihr nach ukrainischer Tradition mit selbst gebackenem Brot willkommen geheißen", notiert Bettina Schwirz in ihr Reisetagebuch.
Sie wohnen bei Nadja, die sie seit Jahren bei ihrer Arbeit unterstützt und trotz ihrer eigenen Armut versucht, anderen zu helfen. "Ohne die Menschen, die über ihren Tellerrand hinaus schauen und denen man vertrauen kann, könnten wir unsere Hilfsaktionen in diesen Dörfern gar nicht durchführen. Und würde es mehr von diesen Menschen geben, vor allem in der Politik, dann wären unsere Hilfsaktionen gar nicht mehr erforderlich", sagt Dieter Wolf.
Mit Oksana als Dolmetscherin machen sich die Deutschen auf den Weg, um Kinder zu besuchen.
Die junge Frau stammt aus dem Dorf und ist gerade auf Besuch bei Ihrer Familie. Sie hatte auf Lehramt studiert, sieht aber in ihrem Land keine Zukunft. In Werbiwka wird zuerst der Kindergarten besucht. Die Leiterin zeigt die Spielsachen, die sie über Spendenlieferungen aus Neustadt erhalten hat. Im Dorf suchen die Helfer acht Kinder auf, die für die nächste Kindergruppe vorgeschlagen wurden. "Armut und Arbeitslosigkeit sind in solch abgelegenen Dörfern Standard. Hier könnten wir eigentlich alle Kinder zu einem Genesungsaufenthalt einladen", erklärt Wolf.
Für den Nachmittag haben die Neustadter auf der Kinderliste in Visock 22 Kinder stehen. Aus Erfahrung wissen sie, das wird nicht zu schaffen sein. "Man geht hier nicht von einem Haus ins nächste, die Dörfer sind
weit auseinander gezogen, manche Hütte steht irgendwo am Feld- oder Waldrand, dazwischen ist sumpfiges Gebiet", schildert Wolf die Umstände.
Sie treffen auf Kinder, die bei ihren Großeltern oder bei Verwandten aufwachsen, da den Eltern das Sorgerecht entzogen wurde. Wenn sie nachfragen, ist immer wieder Alkohol die Ursache. Auch Jana lebt aus diesem Grund in einer Pflegefamilie, es sind entfernte Verwandte von ihr, und sie ist nicht das einzige Pflegekind in der Familie.
Bestätigung für die Arbeit
Die Deutschen nehmen eine kurze Einladung im Haus von Andrij, dem Dorfpfarrer, an. Ihr religiöser Glaube ist hier für viele Menschen die einzige Hoffnung. Andrij ist sehr interessiert an der Arbeit der Neustadter und spricht ihnen seine Hochachtung aus. Seine Frau ist Lehrerin und sie bestätigt, dass viele der Kinder nach Ihrer Rückkehr vom Genesungsaufenthalt in Deutschland mit einer ganz anderen Motivation in die Schule gehen.
Am Nachmittag des nächsten Tages laden sie auf dem Dorfplatz Kinder auf ein Eis ein.
Maxim ist ebenfalls dabei, er führt voller Freude die Beweglichkeit seiner fünf Finger an seiner vollkommen geheilten Hand vor. "Beim Genesungsaufenthalt im vergangenen Jahr hatten wir nicht nur Angst um den Erhalt seiner Hand sondern auch Angst um sein Leben. Er war mit einem total zerfetzten Finger angereist und die Blutvergiftung hatte bereits eingesetzt" erinnert Wolf. Schnelles Handeln, zwei Operationen und drei Wochen Krankenhaus haben sein Leben gerettet und seine Hand erhalten. "Durch die gute Arbeit der Ärzte im Coburger Krankenhaus konnte sogar der Finger wieder vollständig verheilen", freut sich der Vorsitzende der Kinderhilfe.
Spuren hat die Arbeit des Vereins vor allem im Dorf Fedoriwka hinterlassen. Im Lauf der letzten zehn Jahre hat sich hier aus einzelnen Hilfsaktionen eine
Partnerschaft entwickelt und es konnten somit auch langfristige Projekte in der Dorfschule, dem
Kindergarten und dem Jugendklub in Angriff genommen werden.
"Wir finanzieren das Material und die Dorfgemeinschaft übernimmt die Arbeitsleistungen", erklärt Wolf das Projekt.
"Manch schlimme Zustände gehen einem nicht mehr aus dem Kopf", hält Bettina Schwirz fest. So wie in Worobji. Die dortige Schuldirektorin Olga begleitet sie, acht Kinder stehen auf der Liste. Taja lebt mit ihren acht Geschwistern und ihren Eltern in einem Haus mit zwei Wohn-Schlafräumen. Anhelina hat sechs Geschwister, hier ist es wenigstens etwas aufgeräumter. Und Anatoli lebt mit seiner Mutter, seinen drei Geschwistern und dem Bruder der Mutter in einem einzigen Zimmer, ohne Küche, Bad und Flur. Ein eigenes Bett, dafür reicht gar nicht der Platz. Die Toilette und Sommerküche, ist über den Hof. Etwas abgelegen im Wald wollen sie noch ein Mädchen aufsuchen.
"Das was wir erleben, darauf sind wir in keiner Weise vorbereitet, auch wenn wir wissen, dass die Eltern Alkoholiker sind", notiert Bettina Schwirz für den späteren Reisebericht. Ein verwahrlostes Haus, Türen und Fenster kaputt. Im Hof eine schmächtige Frau total teilnahmslos und ein junger Mann in Lumpen, er kann sich nicht auf den Beinen halten, kriecht zum Teil auf allen Vieren herum und schlägt seinen Kopf immer wieder an die Wand. Als sie nach Julia fragen, kommt ein Mädchen heraus und sagt, dass sie ihre Schwester holt und rennt in den Wald. Die Schwestern kommen zurück und die Helfer fragen die Mädchen, ob sie ins Haus dürfen. "Die Wände schwarz von Schmutz und Schimmel, die spärlichen Möbel ebenso kaputt und schmutzig", schildert Schwirz die Situation. "Als wir wieder draußen sind, hat jeder von uns erst mal einen Kloß im Hals und Tränen in den Augen", hält Bettina Schwirz fest.
Nicht nur solche Erlebnisse bestärken die Neustadter darin immer weiter zu helfen. "Wir erleben immer wieder, dass für fast alle Kinder der Genesungsaufenthalt über unseren Verein das einschneidenste Erlebnis ihres Lebens ist. Neben Lebensfreude und Hoffnung nehmen die meisten Kinder auch den Vorsatz mit, aus ihrem Leben etwas zu machen und nicht wie viele der Eltern im Alkohol zu versumpfen. Bei einigen unserer ehemaligen Gastkinder erleben wir nach Jahren Dankbarkeit. Solche Begegnungen bestärken uns in unserem Tun", sagt Wolf.
Dann kommt der Tag der Abreise. Von den vielen Kindern die sie besucht haben werden sie nur 20 Kinder für den nächsten Sommer für einen Genesungsaufenthalt einladen können. Schwere Entscheidungen müssen getroffen werden. Und es muss noch viel getan werden, um das Geld für diesen Genesungsaufenthalt der Kinder zusammen zu bekommen.
Die Tschernobyl Kinderhilfe ist schließlich auf Spenden angewiesen. Die Erlebnisse dieser Reise vor Augen zu haben, spornt Dieter Wolf und seine Mitstreiter an, auch diesmal wieder nicht aufzugeben, bis das nötige Geld gesammelt haben.
Wer den Verein kontaktieren möchte, erreicht Dieter Wolf per E-Mail unter
dieterwolf@necnet.de. Informationen über den Verein finden sich außerdem im Internet unter
www.tschernobylhilfe-neustadt.com.