Eine Grenze überschritten
Die Nachtwächterin ist in eine der leeren Hallen ganz eingezogen. Auf ihren Rundgängen und vor den Monitoren hat sie viel Zeit zum Nachdenken, über anderes und den Wolf. Sie erkennt, dass der Wolf nicht gefürchtet wird, weil er heutzutage - übrigens in seltenen und wenigen Fällen - in Containern nach Fressbarem, nach dem aus unserem Überfluss Weggeworfenen sucht, sondern weil er eine Grenze überschritten hat, in der absurden Linien- und Grenzziehung des menschlichen Versuches, die Welt zu ordnen, zu sichern, zu begreifen.
Die Nachtwächterin erfährt von dem Mann, der vom Himmel fiel, wahrscheinlich ein Flüchtling aus Kamerun, der sich im Fahrwerk eines Flugzeuges versteckt hatte. Er starb schon, bevor er vom Himmel fiel.
Die Nachtwächterin geht auf den nahe gelegenen Flughafen und denkt sich über die äußeren, technischen Umstände in ein mögliches Leben des Flüchtlings. Viele Spekulationen, Möglichkeiten, schließlich tun sich, bei näherem Hinsehen immer mehr Stellen von Nichts auf in dieser Welt.
Es stellt sich heraus, was die Nachtwächterin früher war. Dann aber wollte sie nicht mehr Teil einer Geschichte sein, sondern - wenn überhaupt - von vielen. Also hat sie ihr "Umfeld" verlassen. Alles ist nur noch Umfeld, nicht Heimat, nicht Herkunft, nicht Verortung.
Schon am Anfang des Romanes stellte die Erzählerin fest: "Ich zweifle daran, dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht." - Wer sich dieser Perspektive aussetzen möchte, dem seien diese Lesung heute Abend und dieser aus unserer Herkömmlichkeit entrückte Roman empfohlen.
Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. Roman. Aufbau-Verlag Berlin, 192 Seiten, 18 Euro
Kultur-Tipp Coburger Literaturkreis: Lesung mit Gianna Molinari, Donnerstag, 4. Juli, 19.30 Uhr im Pavillon des Kunstvereines.
Gianna Molinari, geboren 1988 in Basel, studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und im Anschluss Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. 2012 war sie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa am Literarischen Colloquium Berlin. Derzeit lebt sie in Zürich, wo sie mit Julia Weber die Kunstaktionsgruppe "Literatur für das, was passiert" mitbegründet hat, die Menschen auf der Flucht helfen will.
Ihre Kurzgeschichte "Herr Bleier" wurde 2012 mit dem 1. Preis und dem Publikumspreis des MDR-Literaturwettbewerbes ausgezeichnet. 2017 erhielt Gianna Molinari beim Ingeborg-Bachmann-Preis für den Text "Loses Mappe" den mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis.
2018 gelangte sie mit ihrem Romandebüt "Hier ist noch alles möglich" auf die Longlist des Deutschen Buchpreises und auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises. Heuer hat sie dafür den Clemens-Brentano-Preis erhalten.