Damit wir nicht immer brutaler werden B ei seinem einstündigen Vortrag in der Morizkirche analysierte Anselm Grün die christlichen Feste im Jahresverlauf. Er bediente sich dabei, kenntnisreich wie er ist, einer Fülle von Aussagen anderer Theologen, von Psychologen und Zeitanalytikern. In seiner geballten Informationsfülle erforderte es hohe Konzentration, ihm zu folgen.
Beginnend mit der bevorstehenden Adventszeit, erläuterte er die Bedeutung der Sehnsucht, die nicht mit purem Wünschen verwechselt werden dürfe. "Sehnsucht ist die Fähigkeit, das Jetzt und Hier zu akzeptieren." Sie auszuhalten sei bereits ein Akt der Heilung. Wer Sehnsucht nach Liebe habe, liebe bereits. Suchthaftes Verhalten sei dagegen verdrängte Sehnsucht. Wer Sehnsucht nicht aushalten kann, will ständig sofortige Befriedigung.
Max Horkheimer zitierend, unterstrich Grün mehrmals, dass eine wichtige Aufgabe der christlichen Kirchen - "auch wenn es scheint, als würden wir immer weniger" - darin liege, Sehnsucht in einer Gesellschaft wach zu halten, die immer weiter dem Äußerlichen verfällt, in dem der einzelne sich immer weiter von sich selbst entfernt. "Ohne uns wären Weihnachtsmärkte, Weihnachten, Ostern nur noch eine Farce. Wir halten die darin steckende Sehnsucht aufrecht", so Anselm Grün.
Er nahm die in den Festen verdichteten und transportierten Bilder, um Seelenzustände zu erklären. Konzentration auf diese christlichen Bilder führe in die Tiefe der eigenen Seele und heile diese. Zur Passionszeit betonte er etwa: "Wenn Leid verdrängt wird, wird eine Gesellschaft immer brutaler. Das Gedächtnis des Leides vermenschlicht sie."
Das ist eine Umarmung
Meditation über die Kreuzesgebärde führe zu persönlichen Fragestellungen: "Was durchkreuzt mich im Innersten? Verwandle ich das, was mir widerfahren ist, in Bitterkeit oder in Hingabe? Bleibe ich in der Opferrolle, oder lasse ich sie hinter mir, mein Leben trotz allem selbst gestaltend?" Im Übrigen sei die Kreuzesgebärde eine Gebärde der Umarmung.
Die Fülle seiner Erklärungen war stets mit der Aufforderung verbunden, sich nicht mit dem Äußeren zu begnügen, sondern sich der inneren Wirklichkeit bewusst zu werden. "Fehler unserer Kirchen war aber, zu viel zu moralisieren. Jesus moralisierte nicht, er predigte aus dem Sein. Und aus dem Sein folgt das Sollen. Wenn wir entdecken, wer wir sind, wird unser Handeln automatisch anders."
Um vom Theoretischen dann aber auch einen Anfangsschritt ins Praktische zu tun, zog Anselm Grün die große Zahl der Besucher in eine kleine Meditation, im Stehen mit gekreuzten Armen über der Brust. Er endete mit einem 1600 Jahre alten Gebet. "Sie müssen gar nicht daran glauben; wir sind getragen vom Glauben in diesen alten Worten."
Anselm Grün geboren 1945 in Junkershausen, legte 1964 sein Abitur in Würzburg ab und trat noch im selben Jahr ins Noviziat in der nahe gelegenen Benediktiner-Abtei Münsterschwarzach. Er studierte er Philosophie und katholische Theologie in St. Ottilien und in Rom. In seiner Dissertation beschäftige er sich mit Karl Rahner. Von 1974 bis 1976 studierte Anselm Grün Betriebswirtschaftslehre in Nürnberg. Sein erstes Buch erschien 1976 und trägt den Titel "Reinheit des Herzens". Bis heute folgten weitere 300 spirituelle Bücher. Von 1977 bis 2013 war er als Cellerar der Abtei Münsterschwarzach verantwortlich für die wirtschaftliche Leitung der Abtei mit ihren insgesamt 20 Betrieben.