Viele Gebäude erzählen bis heute von der jüdischen Geschichte - auch wenn die Juden selbst aus dem Altlandkreis Bad Brückenau verschwunden sind.
Gänsehaut kriecht den Rücken der Zuhörer herunter. Cornelia Mence steht vor einem Haus in der Ludwigstraße, gegenüber des Reformhauses. Schmuck hebt sich die dunkelgrüne Fassade von den anderen Gebäuden ab. Die Schwestern Spier lebten hier, sie betrieben ein Geschäft mit Kurzwaren. Leise aber bestimmt liest Cornelia Mence ein Gedicht vor, das einst der Brückenauer Josef Krug über die Schwestern geschrieben hatte. Wie viele anderen Juden verschwanden auch die Spiers aus der Stadt. "Keiner will wissen wohin", dichtete Krug, nachdem er das Konzentrationslager Auschwitz besucht hatte. Eine der beiden Schwestern - das weiß Mence zu berichten - kam dort ums Leben. Das Schicksal der anderen ist ungeklärt.
Viele Häuser in der Ludwigstraße gehörten Juden
"Als junges Mädchen habe ich zwei Romane von Leon Uris gelesen", erzählt Mence.
In der Schule war die Diskriminierung von Juden im Dritten Reich kein Thema. Die Schilderung der Nazizeit und des Holocaustes in den Büchern habe sie so erschüttert, dass sie Nachforschungen anstellte, was eigentlich aus den Juden in ihrer Heimat geworden ist. Seit 1985 durchforschen Cornelia Mence und ihr Mann Michael Dokumente und Zeitzeugenberichte. Kaum einer im Landkreis weiß über die Geschichte der Juden so gut Bescheid wie die beiden.
Wo heute die Sparkasse steht, war früher der Viehhandel Stern. Auch ein Schuhhaus Stern gab es, und zwar in der Judengasse. Die hieß übrigens nicht so, weil dort besonders viele Juden wohnten, sondern weil der Weg zur Synagoge durch das kleine Gässchen führte. Matzenbäckerei und eine jüdische Schule fanden sich in der Unterhainstraße, im Alten Schlachthofweg stand die Synagoge.
Vorurteil stimmt nur teilweise
"Viele Leute haben das Vorurteil, die Juden wären besonders reich gewesen. Das war gar nicht so", sagt Mence. Sie hätten aber oft mehrere Standbeine gehabt und das Geld zusammenhalten können. Wer aber durch die Ludwigstraße und die Unterhainstraße geht, der bekommt ein Gefühl dafür, dass jüdische Geschäftsleute durchaus eine wichtige Rolle in der Stadt gespielt haben. Sogar im Stadtrat war ein Jude vertreten: Josef Schuster - übrigens einer der Vorfahren des heutigen Vorsitzenden des Zentralrats der Juden, der ebenfalls so heißt. Auf dem Land aber, wie zum Beispiel in Geroda, blieben die Juden bis in die 1930er Jahre arm, schildert Mence. Das Zeitfenster des Wohlstands war kurz.
Nach der Nazizeit sei kein einziger Jude im Altlandkreis Bad Brückenau übrig geblieben oder dauerhaft zurückgekehrt, erzählt Mence.
Untermalt wird der Spaziergang zu den Orten jüdischer Geschichte mit Texten des israelischen Schriftstellers Samuel Joseph Agnon. Für sein Werk erhielt er 1966 zusammen mit der Schriftstellerin Nelly Sachs den Nobelpreis für Literatur. Anfang des 21. Jahrhunderts weilte Agnon in Bad Brückenau. Wer nach Zeugnissen jüdischen Lebens in der Kurstadt sucht, sollte seine Kurzgeschichte "Zwischen zwei Städten" unbedingt einmal gelesen haben.
Judentum in Bad Brückenau 1576 soll es erste Juden in Brückenau gegeben haben. Um 1600 herum sind acht bis zehn jüdische Familien belegt (bei einer Einwohnerzahl von ungefähr 500 Menschen). Im 17.
Jahrhundert wurden die Juden allerdings aus dem Gebiet vertrieben.
Ab
1817 mussten Juden so genannte Schutzbriefe vorweisen, um in einem Ort leben zu dürfen. Die "Matrikelstellen" konnten von den Behörden beliebig begrenzt werden. Brückenau war mit drei Matrikelstellen (entspricht drei Familien) die kleinste jüdische Gemeinde im Landkreis. Erst im Jahr 1871 wurde das Judenedikt abgeschafft.
1876 siedelte die Familie Kaufmann von Unterleichtersbach ins Staatsbad und gründete dort das erste koschere Hotel in der ehemaligen Kurpension Mariental. Im Jahr 1900 kam das zweite jüdische Hotel dazu. Auch in der Stadt gab es ein jüdisches Hotel, das Zentralhotel der Familie Schuster in der Unterhainstraße. 1914 waren sieben Prozent der Einwohner jüdischer Herkunft.
1938 brannte die Synagoge im Alten Schlachthofweg.
Die jüdische Gemeinde hatte das imposante Gebäude bauen lassen. Es wurde durch den Brand aber nur beschädigt, nicht völlig zerstört. Schon im 17. Jahrhundert muss es ein jüdisches Gotteshaus in Brückenau gegeben haben, danach ist ein Betsaal in der Stadtmitte belegt, der vermutlich dem Stadtbrand zum Opfer fiel.