In einem Interview sagte Lindgren einmal: «Ich bin sehr kindlich. In mir lebt wahrscheinlich ein kleines Kind. Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie es war, ein Kind zu sein, wie ein Kind fühlt und reagiert.»
Absurder Humor, aber auch Melancholie
Neben teils recht absurdem Humor schwingt aber auch schon bei Pippi die vielen von Lindgrens späteren Büchern eigene Melancholie mit. Zum Beispiel, wenn Pippi erzählt, dass sie sich immer selbst in den Schlaf singt, weil sie ja keine Eltern hat, die das für sie tun würden. Wenn Pippi erzählt, wie sie zu ihrer Mutter, die «ein Engel» ist, regelmäßig in den Himmel ruft: «Hab keine Angst! Ich komme immer zurecht!», könnte man sich vorstellen, dass Lindgren, selbst Mutter zweier Kinder, das auch als Trost für sich selbst geschrieben hat.
Als 18-Jährige wurde sie außerehelich schwanger. Sie brachte ihren Sohn heimlich in Kopenhagen zur Welt. Er wuchs die ersten Jahre seines Lebens bei einer Pflegefamilie und bei Lindgrens Eltern auf. Erst als sie später heiratete, konnte sie ihn zu sich holen. Die Tochter, die sie mit ihrem Ehemann bekam, wuchs auf, während der Zweite Weltkrieg wütete. Zwar war die Familie im neutralen Schweden relativ sicher, aber Lindgren verfolgte das Kriegsgeschehen intensiv und machte sich große Sorgen - um ihr Land, die Welt und um ihre Familie.
«Pippi Langstrumpf» begann als Gutenachtgeschichte
In dieser beklemmenden Zeit begann auch die Geschichte von «Pippi Langstrumpf». Als Lindgrens Tochter Karin, damals sieben Jahre alt, im Jahr 1941 mit einer Lungenentzündung im Bett lag, bat sie ihre Mutter wie so oft, ihr eine Geschichte zu erzählen. «Erzähl von Pippi Langstrumpf», sagte das Mädchen und erfand in dem Moment den Namen der Figur, die Kinder auf der ganzen Welt auch mehr als 80 Jahre später noch kennen und lieben sollten.
Astrid Lindgren dachte sich an dem Abend und an vielen weiteren Abenden in den Wochen, Monaten und Jahren danach Geschichten rund um das starke rothaarige Mädchen aus. Denn Karin wollte von nun an nur noch Pippi-Geschichten hören. «Das war ein verrückter Name, also musste das Mädchen auch etwas verrückt sein», sagte die Autorin einmal.
Als Astrid Lindgren Anfang des Jahres 1944 auf einem eisglatten Stockholmer Gehweg ausrutschte und sich den Knöchel verstauchte, war sie es, die das Bett hüten musste. Zum Zeitvertreib begann Lindgren, die Geschichten über Pippi aufzuschreiben. Sie wollte sie ihrer Tochter Karin zum zehnten Geburtstag schenken.
Im Jahr darauf schickte Lindgren das Manuskript von «Pippi Langstrumpf» im Rahmen eines Preisausschreibens an einen kleinen Stockholmer Verlag - und landete damit auf dem ersten Platz. Kurz nach Kriegsende erschien «Pippi Langstrumpf» dann in Buchform.
Pippi besiegt den «starken Adolf»
Trägt Lindgrens lustiges Kinderbuch also Spuren vom Krieg? «Obwohl ihre Kinderbücher nie offen politisch sind, spielen Widerstand sowie die Themen Freundlichkeit, Macht und Kinderrechte eine wichtige Rolle», sagt Literaturprofessorin Druker. «Diese Botschaften finden sich in all ihren Werken, treten jedoch vielleicht am deutlichsten und direktesten in der Figur der Pippi Langstrumpf zutage.»
Es ist sicher kein Zufall, dass der gemeine Zirkusdirektor in der schwedischen Ausgabe einen deutschen Akzent hat - und dass Pippi in ebendiesem Zirkus den «stärksten Mann der Welt» mit dem Namen «starker Adolf» besiegt. In typischer Pippi-Manier tut sie das nicht aus Kampfeslust, sondern um dem Zirkusdirektor eine Lektion zu erteilen. Bevor sie in die Manege steigt, sagt sie zu ihren Freunden Tommy und Annika: «Aber ich finde es schade, ihn zu verhauen, er sieht so nett aus.»
Laut Elina Druker ist eine der Botschaften, die das Buch vermittelt, dass Stärke und Macht Hand in Hand gehen sollten mit Empathie und Freundlichkeit. «Pippi ist das stärkste Mädchen der Welt, aber sie ist auch rebellisch, gütig und großzügig», meint Druker. Pippi missbraucht ihre Stärke und ihren Reichtum nicht; ganz im Gegenteil setzt sie sie oft dafür ein, den Schwächsten zu helfen. Genau diese Werte machen «Pippi Langstrumpf» zu einem Kinderbuch, das auch - oder gerade - in heutigen Zeiten äußerst relevant bleibt.