Gänsehaut pur: Bei anschwellender Orgelmusik fällt in der Kirche ein Karton nach dem anderen der symbolisch gebauten Grenze durch Deutschland. Fakten, Fotos und Daten machten die Besucher noch nachdenklicher.
800 "Mauersteine" brachen aus der acht Meter breiten und drei Meter hohen Wand und polterten in den Kirchenraum. Einige krachten am vergangenen Sonntag auf das Taufbecken der evangelischen Dreieinigkeitskirche in Bad Staffelstein. Das 50 Zentimeter tiefe Bauwerk aus Pappkartons symbolisierte die Berliner Mauer, die vor 25 Jahren von Menschen aus Ost und West eingerissen wurde. Die beiden Pfarrer, Konfirmanden und Kirchenvorsteher brachten das symbolische Bollwerk gegen die Freiheit zu Fall. Bei anschwellender Orgelmusik fielen die einzelnen Mauerteile langsam herab, bis das ganze Bauwerk einstürzte. Mit den "Steinen" dürfen jetzt die Kindergartenkinder spielen.
Nachdem eine Gasse zu Altarraum freigeräumt war, wurden Kerzen zur Erinnerung entzündet und auf die "Steine" gestellt. Für die Menschen, die sich für die friedliche Revolution eingesetzt haben. Eine Kerze leuchtete zum Dank für die Freiheit.
Zum Gedenken an die, die im Kampf für die Freiheit ihr Leben lassen mussten. Eine Kerze für die auseinandergerissen Familien und für die, die ihre schlimmen Erinnerungen nicht loswerden können. Für alle, die sich immer wieder neu für Freiheit und Gerechtigkeit auf den Weg machen. Eine Kerze für die, die heute zu uns flüchten und für die, die in den Kindern unsere Geschichte lebendig halten. Und schließlich eine Kerze für die, die Befreiung in Gottes Licht sehen.
Ausmaß des Schreckens Pfarrer Matthias Hagen stellte den Gottesdienst unter das Leitwort "Mauern überwinden". Eine Stimme hinter der Mauer ließ das ganze Ausmaß des Schreckens hörbar werden, während Fotos die Fakten und Zahlen transparent machten. Über 1393 Kilometer zog sich der Zaun mit Selbstschussanlagen hin. 1,3 Bodenminen wurden ab August 1961 verlegt.
300 Orte mit 200 000 Einwohnern lagen in der Sperrzone. 1,8 Milliarden Ostmark kosteten der Aufbau und 500 Millionen Mark der jährliche Unterhalt.
Zum Kyrie wurden die Auswirkungen der Trennung besungen: die kalte Mauer des Schweigens, Armut, Gewalt von Jugendlichen oder die gefährdete Umwelt. Pfarrer Hagen verknüpfte seine sehr persönliche Predigt mit den Worten des 18. Psalms: "Ja, mit Dir renne ich gegen Mauern an, mit meinem Gott überspringe ich alle Hürden".
Im Norden des Coburger Landes aufgewachsen, erlebte der Geistliche in unmittelbarer Nähe nach Norden, Westen und Osten die Grenze. Die Grenzerfahrung habe sich tief in ihn eingeprägt.
"Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen", dieses Wort sei ihm schon immer wert und wichtig gewesen, gerade auch für die Erfahrungen seiner eigenen manchmal scheinbar unüberwindlichen Lebensmauern, sagte Hagen in seiner Predigt.
Die sichtbare Grenze habe eine unsichtbare Entsprechung als Riss in der Seele vieler Menschen durch Berufsverbote, Bespitzelung, Diffamierung und Fluchtversuche. Auswirkungen seien davon heute noch spürbar, und manches an den Spannungen aus der Zeit der Teilung sei auch bis heute noch ungelöst, machte der Pfarrer deutlich. "Überwunden haben wir Deutsche das Problem wahrscheinlich erst, wenn man auf die Frage ,Wissen Sie, was ein Ossi oder Wessi ist?' nur antworten kann: ,Da muss ich passen, das weiß ich nicht.'". Die Mauer sei Teil der deutschen Geschichte, machte der Pfarrer deutlich. In anderen Teilen der Welt bestimme sie nach wie vor das Leben der Menschen, besonders brutal zwischen Israel und Palästina.