Führung durch Lichtenfels offenbart Schicksal fränkischer Juden

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Durch den Regen kamen Lichtenfelser und Besucher dem Leben und der Verfolgung in einer gut zweistündigen Stadtführung immer näher.Foto: Ronald Rinklef
Durch den Regen kamen Lichtenfelser und Besucher dem Leben und der Verfolgung in einer gut zweistündigen Stadtführung immer näher.Foto: Ronald Rinklef
RathausFast von Beginn der Stadtgeschichte an sind Juden in Lichtenfels erwähnt - ab dem 19. Jahrhundert auch in kommunalpolitischen Gremien, aus denen man sie in den 1930er Jahren hinauswarf. Am 8. November 1938 enteignete der Bürgermeister zwei jüdische Familien, die Eigentum an den "Fleischbänken" im Rathaus hatten, um einen "für die Stadt unwürdigen Zustand endgültig zu beseitigen", denn aus seiner Sicht konnten Juden "keine Nutznießer am deutschen Gemeinwesen sein". Foto: Ronald Rinklef
RathausFast von Beginn der Stadtgeschichte an sind Juden in Lichtenfels erwähnt - ab dem 19. Jahrhundert auch in kommunalpolitischen Gremien, aus denen man sie in den 1930er Jahren hinauswarf. Am 8. November 1938 enteignete der Bürgermeister zwei jüdische Familien, die Eigentum an den "Fleischbänken" im Rathaus hatten, um einen "für die Stadt unwürdigen Zustand endgültig zu beseitigen", denn aus seiner Sicht konnten Juden "keine Nutznießer am deutschen Gemeinwesen sein". Foto: Ronald Rinklef
 
Marktplatz 21Hier feierte Carl Kraus am 4. Februar 1933 seinen 75. Geburtstag. Fünf Tage nach der Machtübernahme wurde der jüdische Stadtrat in Zeitung, Rathaus und zahlreichen Vereinen für seine Verdienste gelobt, beschenkt, besungen. Fünf Jahre später wurde er in der Pogromnacht halb bekleidet zur geschändeten Synagoge geschleift. Am Morgen plünderten Nachbarinnen seinen Stoffhandel. Er starb 1940 und war einer der letzten Juden, die in Lichtenfels beigesetzt wurden. 1941 wurde der jüdische...
Marktplatz 21Hier feierte Carl Kraus am 4. Februar 1933 seinen 75. Geburtstag. Fünf Tage nach der Machtübernahme wurde der jüdische Stadtrat in Zeitung, Rathaus und zahlreichen Vereinen für seine ...
Marktplatz 21Hier feierte Carl Kraus am 4. Februar 1933 seinen 75. Geburtstag. Fünf Tage nach der Machtübernahme wurde der jüdische Stadtrat in Zeitung, Rathaus und zahlreichen Vereinen für seine Verdienste gelobt, beschenkt, besungen. Fünf Jahre später wurde er in der Pogromnacht halb bekleidet zur geschändeten Synagoge geschleift. Am Morgen plünderten Nachbarinnen seinen Stoffhandel. Er starb 1940 und war einer der letzten Juden, die in Lichtenfels beigesetzt wurden. 1941 wurde der jüdische...
 
Marktplatz 30Seit dem 19. Jahrhundert lebten in dem Haus mal christliche, mal jüdische Lichtenfelser wie Willy Marchand. Mit Anfang 20 schrieb der Unternehmersohn für das sozialdemokratische "Coburger Volksblatt" - es waren mit Insiderwissen gespickte Artikel gegen die Lichtenfelser Society . Er wurde in den 1930er Jahren entmündigt, in die "Heil- und Pflegeanstalt Kutzenberg" eingeliefert und 1940 ermordet. Einer von 70 000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, die in der "A...
Marktplatz 30Seit dem 19. Jahrhundert lebten in dem Haus mal christliche, mal jüdische Lichtenfelser wie Willy Marchand ...
Marktplatz 30Seit dem 19. Jahrhundert lebten in dem Haus mal christliche, mal jüdische Lichtenfelser wie Willy Marchand. Mit Anfang 20 schrieb der Unternehmersohn für das sozialdemokratische "Coburger Volksblatt" - es waren mit Insiderwissen gespickte Artikel gegen die Lichtenfelser Society . Er wurde in den 1930er Jahren entmündigt, in die "Heil- und Pflegeanstalt Kutzenberg" eingeliefert und 1940 ermordet. Einer von 70 000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, die in der "A...
 
Dippold voran, weiter zu den Stationen, die das bitterste Kapitel deutscher Geschichte immer näher in die Lichtenfelser Gegenwart zurückholenFoto: Ronald Rinklef
Dippold voran, weiter zu den Stationen, die das bitterste Kapitel deutscher Geschichte immer näher in die Lichtenfelser Gegenwart zurückholenFoto: Ronald Rinklef
 
Innere Bamberger Straße 14Ein altes Lichtenfelser Geschäftshaus: Hier lebte im 19. Jahrhundert Samuel Kohn, der erste jüdische Magistratsrat in Lichtenfels und einer der vielen Stoffhändler. 1908 kaufte Nathan Oppenheimer aus dem heutigen Bad Königshofen das Geschäft, das inzwischen ein Korbhandel war. Oppenheimer wandelte den Laden wieder in einen Textilhandel um. Foto: Ronald Rinklef
Innere Bamberger Straße 14Ein altes Lichtenfelser Geschäftshaus: Hier lebte im 19. Jahrhundert Samuel Kohn, der erste jüdische Magistratsrat in Lichtenfels und einer der vielen Stoffhändler. 1908 kaufte Nathan Oppenheimer aus dem heutigen Bad Königshofen das Geschäft, das inzwischen ein Korbhandel war. Oppenheimer wandelte den Laden wieder in einen Textilhandel um. Foto: Ronald Rinklef
 
Innere Bamberger Straße 11Das Gebäude war seit 1828 im Eigentum von Juden. Weil es direkt gegenüber seines Geschäfts in der Bamberger Straße 14 lag, kaufte es Nathan Oppenheimer dazu. Als er 1921 starb, führte sein Sohn Alfred Oppenheimer den Betrieb weiter. Als er, seine Mutter und seine Frau bei der Emigration im Mai 1939 versuchten, heimlich etwas von ihren Wertsachen mitzunehmen, wurden sie erwischt und eingesperrt. Die Auswanderung war damit unmöglich, alle drei wurden ermordet. Foto: Ro...
Innere Bamberger Straße 11Das Gebäude war seit 1828 im Eigentum von Juden. Weil es direkt gegenüber seines Geschäfts in der Bamberger Straße 14 lag, kaufte es Nathan Oppenheimer dazu ...
Innere Bamberger Straße 11Das Gebäude war seit 1828 im Eigentum von Juden. Weil es direkt gegenüber seines Geschäfts in der Bamberger Straße 14 lag, kaufte es Nathan Oppenheimer dazu. Als er 1921 starb, führte sein Sohn Alfred Oppenheimer den Betrieb weiter. Als er, seine Mutter und seine Frau bei der Emigration im Mai 1939 versuchten, heimlich etwas von ihren Wertsachen mitzunehmen, wurden sie erwischt und eingesperrt. Die Auswanderung war damit unmöglich, alle drei wurden ermordet. Foto: Ro...
 
Kurzes Verschnaufen: Im Torbogen stehen die Zuhörer trocken. Foto: Ronald Rinklef
Kurzes Verschnaufen: Im Torbogen stehen die Zuhörer trocken. Foto: Ronald Rinklef
 
Markt 15Das Gebäude aus dem 18. Jahrhundert ist eines der schönsten am Lichtenfelser Marktplatz und diente lange als Forstamt. 1827 wurde es versteigert und gehörte der jüdischen Familie Zenner, die hier so etwas wie ein frühes Kaufhaus betrieb, in dem es nicht nur Stoffe, sondern bereits fertig geschneiderte Konfektion gab. 1918 zog die Familie nach Bamberg. Foto: Ronald Rinklef
Markt 15Das Gebäude aus dem 18. Jahrhundert ist eines der schönsten am Lichtenfelser Marktplatz und diente lange als Forstamt. 1827 wurde es versteigert und gehörte der jüdischen Familie Zenner, die hier so etwas wie ein frühes Kaufhaus betrieb, in dem es nicht nur Stoffe, sondern bereits fertig geschneiderte Konfektion gab. 1918 zog die Familie nach Bamberg. Foto: Ronald Rinklef
 
Judengasse 14 (linkes Gebäude)Das Haus war 1778 von einem Juden gekauft worden und diente ab 1902 als Gemeindehaus. Das Obergeschoss war vermietet, unten wohnte der Lehrer. Arnold Seliger war der letzte jüdische Lehrer in Lichtenfels. Als die Synagoge nebenan (Gebäude rechts) in der Pogromnacht geschändet wurde, zerriß und zerstörte der Mob auch den Hausrat des Lehrerehepaares. Protokolle von Zeugenaussagen vor der Staatsanwaltschaft Coburg aus dem Jahr 1949 belegen, wie Hitlerjungen mit Reit...
Judengasse 14 (linkes Gebäude)Das Haus war 1778 von einem Juden gekauft worden und diente ab 1902 als Gemeindehaus. Das Obergeschoss war vermietet, unten wohnte der Lehrer ...
Judengasse 14 (linkes Gebäude)Das Haus war 1778 von einem Juden gekauft worden und diente ab 1902 als Gemeindehaus. Das Obergeschoss war vermietet, unten wohnte der Lehrer. Arnold Seliger war der letzte jüdische Lehrer in Lichtenfels. Als die Synagoge nebenan (Gebäude rechts) in der Pogromnacht geschändet wurde, zerriß und zerstörte der Mob auch den Hausrat des Lehrerehepaares. Protokolle von Zeugenaussagen vor der Staatsanwaltschaft Coburg aus dem Jahr 1949 belegen, wie Hitlerjungen mit Reit...
 
Zum Abschluss der Stadtführung ging es hinein in die Synagoge.Foto: Ronald Rinklef
Zum Abschluss der Stadtführung ging es hinein in die Synagoge.Foto: Ronald Rinklef
 
Marine, Marie-Luise und Alicia in der Lichtenfelser SynagogeFoto: Ronald Rinklef
Marine, Marie-Luise und Alicia in der Lichtenfelser SynagogeFoto: Ronald Rinklef
 
Trotz Regen und Kälte folgten die Zuhörer Dippold auch nach gut zwei Stunden noch interessiert. Applaus für seinen Vortrag wollte er am Ende in der Synagoge nicht. Er bat einfach um ein stilles Gedenken.Foto: Ronald Rinklef
Trotz Regen und Kälte folgten die Zuhörer Dippold auch nach gut zwei Stunden noch interessiert. Applaus für seinen Vortrag wollte er am Ende in der Synagoge nicht. Er bat einfach um ein stilles Gedenken.Foto: Ronald Rinklef
 

Gebäude, wie sie überall in Franken stehen. Geschichten, wie sie überall passierten: vor 75 Jahren, als die Nationalsozialisten zur offenen Gewalt gegen Juden übergingen. Ihre Schicksale erkundeten an die 70 Menschen bei einer Stadtführung durch Lichtenfels.

Die blaue Kapuze tief im Gesicht schreit Günter Dippold die Geschichten der Lichtenfelser Juden über den Markt. Der Bezirksheimatpfleger brüllt gegen das Prasseln auf den Regenschirmen an, gegen das kalte Knistern des Windes. Vielleicht auch ein wenig gegen das Vergessen. Die Lichtenfelser Juden, Oppenheimers und Brülls, Zenners und Gutmanns, Zinns und Pausons - sie sind Geschichte. 75 Jahre nach dem Novemberpogrom gibt es in Lichtenfels und Altenkunstadt eine ganze Gedenkveranstaltungs reihe. Die Stadtführung bildet den Auftakt. An die 70 Zuhörer stapfen mit Dippold durch den Regen in die Vergangenheit.

Die 14-jährige Marie-Luise schreibt akribisch mit, weil sie fürs Meranier-Gymnasium ein Referat vorbereiten muss. "Die Geschichte des Dritten Reichs ist bedrückend", sagt sie.
"Dass man da nichts unternommen hat! So in nächster Nähe ist es besonders beklemmend." Ihre Freundin Alicia will mehr über die Häuser wissen, an denen sie jeden Tag vorbeikommt. Die französische Austauschschülerin Marine interessiert, wie sich die Lichtenfelser mit der Geschichte auseinandersetzen. "Traurig" finden die Mädchen das alles, und drücken sich gemeinsam unter einen Regenschirm.

Antwortsuche auf Krücken

Jan Leirich muss ohne Schirm auskommen. Der 26-Jährige hat keine Hand frei, er humpelt auf Krücken. "Ich bin zur Reha hier", erzählt er. "Das Thema interessiert mich: Wie und warum kam es so weit?" Bessere Antworten als in Schleswig-Holstein findet er aber in Lichtenfels auch nicht: "Es ist hier nichts anderes als bei uns zu Hause."

Grete Buchka ist in Lichtenfels zu Hause, seit 46 Jahren. Sie will mehr über die Vergangenheit ihrer Stadt wissen. "Die Alten haben früher immer von den jüdischen Mädchen erzählt. Hübsche Mädchen müssen das gewesen sein - aber ins Haus durften sie nicht." Gerhard Schmidt wurde 1936 in Lichtenfels geboren, er weiß selbst Einiges zu berichten. "Ich bin erschüttert. Auch nach 75 Jahren."

Eigene Erinnerungen

Der frühere Stadtrat erzählt, wie er als Knirps vom Fenster aus sah, dass Jugendliche einen jüdischen Jungen mit Steinen bewarfen und wie seine Oma zur Kreisleitung zitiert wurde. Ihre Tochter war erwischt worden, als sie heimlich über den Gartenzaun kletterte, um mit dem jüdischen Nachbarsbub zu spielen. "Eine Episode, wie es sie auch woanders gab." Nichts Ungewöhnliches, so wie die Häuser, die Dippold zeigt, überall in Franken stehen könnten.
"Alfred Oppenheimer" ruft Dippold vor der Hausnummer 14 in der Inneren Bamberger Straße, "passiert, was allen jüdischen Männern ab 16 Jahren am 10. November 1938 widerfährt: Sie werden verhaftet. Einfach so. Schutzhaft hieß das dann." Fast 11 000 Menschen wurden nach der Pogromnacht ins KZ Dachau verschleppt, auch die Lichtenfelser waren im Zug unterwegs. "Und dann kommt die Meldung über Telegraf: Dachau ist voll."

Alfred Oppenheimer wird im Landgerichtsgefängnis Hof eingesperrt. Dippold liest aus seinem durchweichten Manuskript Teile eines Briefes vor, in dem Oppenheimers Mutter um die Freilassung des Sohnes bittet: Sie, die Witwe eines Frontsoldaten aus dem Ersten Weltkrieg, sei krank und brauche Hilfe, die Schwiegertochter liege gerade in einer Erlanger Klinik und die Auswanderung in die USA sei doch schon genehmigt. Als Dippold erzählt, dass der Sohn einige Wochen später freikam, ist das Aufatmen unter einigen Regenschirmen hörbar.

Der Anfang des Mordens

Oppenheimers versuchten, heimlich einige ihrer Wertsachen mitzunehmen. Sie wurden erwischt, wegen "Verstoßes gegen das Devisenwirtschaftsgesetz" eingesperrt. "In der Folge können sie das Land nicht mehr verlasssen und werden Opfer der Shoa, des organisierten Massenmordes."

Die Pogromnacht war der Anfang der offenen Gewalt gegen Juden. Nach knapp 20 Stationen - nur einem Teil der jüdischen Geschichte von Lichtenfels - berichtet der Bezirksheimatpfleger in der rekonstruierten Synagoge von der Nacht, in der überall in Deutschland jüdische Gotteshäuser angezündet wurden, von der Bosheit des Lichtenfelser Mobs. Mit diesem bitteren Kapitel endet die Geschichte aber nicht.

Eine 501 als Erbe

Die Tuchhändler, Lehrer, Stadträte gehören zu Lichtenfels wie das jüdische Erbe überhaupt Teil fränkischer Kultur ist. "Wir können stolz darauf sein", sagt der Bezirksheimatpfleger. So wie auf den Buttenheimer Levi Strauss, der in Amerika die Jeans erfand. Dippold trägt unter der Regenjacke eine 501.