Kulmbacher Bierfest-Unfall: Was ist "ein bissla Gerechtigkeit"?

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Hier ist Matthias H. aus Weißenbrunn vor zwei Jahren gestorben. Heute verkündet die Berufungskammer des Landgerichts ihr Urteil. Foto: Stephan Tiroch
Hier ist Matthias H. aus Weißenbrunn vor zwei Jahren gestorben. Heute verkündet die Berufungskammer des Landgerichts ihr Urteil. Foto: Stephan Tiroch

Vor der Jugendkammer des Landgerichts Bayreuth wird der Kulmbacher Bierfest-Unfall mit seiner ganzen Tragik noch einmal aufgerollt. Die Eltern des Getöteten wollen nicht, dass ihr Sohn die ganze Schuld bekommt.

An den Fakten gibt es auch in der Berufungsverhandlung vor der Jugendkammer des Landgerichts Bayreuth am Donnerstag keinen Zweifel: wie sich der Kulmbacher Bierfest-Unfall in der Unglücksnacht am 4. August 2012 zugetragen hat, wie Matthias H. aus dem Weißenbrunner Ortsteil Eichenbühl auf der B 85 bei Ziegelhütten gestorben ist und dass die damals 20-jährige Studentin mit 1,6 Promille niemals mehr hätte Auto fahren dürfen.

Es geht um Einschätzungen, um Schuldzumessung und um Missverständnisse. "Es geht um ein bissla Gerechtigkeit für meinen Sohn. Er wird dadurch auch nicht mehr lebendig, aber das bin ich ihm schuldig", sagt die Mutter des Unfallopfers am Ende des ersten Prozesstages im historischen Schwurgerichtssaal des Bayreuther Justizpalasts. Aber was ist Gerechtigkeit? Können juristische Laien überhaupt nachvollziehen, wie die Rechtsprechung funktioniert?

Keine Alleinschuld

Als ob er es geahnt hätte, richtet Vorsitzender Richter Michael Eckstein schon vorher ein Wort an die Eltern des Opfers, die mit ihrer Berufung den Richterspruch der ersten Instanz vom Dezember anfechten. "Im Urteil des Amtsgerichts Kulmbach ist mit keinem Wort die Rede, dass dem Getöteten das alleinige Verschulden gegeben wird oder dass seine Alkoholisierung zum Unfall beigetragen hat", betont Eckstein. Auch der Gutachter habe festgestellt, dass Matthias H. bei seinem nächtlichen Fußweg vom Bierfest - obwohl bei ihm 1,3 Promille festgestellt worden sind - nicht geschwankt oder getorkelt ist. "Wenn das anders aufgenommen wurde, ist das unzutreffend."

In der Beweisaufnahme wird der Fall, der die Menschen im Raum Kulmbach und Kronach bewegt, mit seiner ganzen Tragik komplett neu aufgerollt. Dass der 30-Jährige nach dem Bierfest zu Fuß auf der B 85 nach Hause laufen will. Dass der Mann um 4.45 Uhr, auf der rechten - falschen - Straßenseite laufend, bei der Kreuzung Ziegelhütten/Niederndobrach vom Mercedes der Anklagten angefahren und in den Straßengraben geschleudert wird. Dass für ihn jede Hilfe zu spät kommt.

"Eine Art Blackout"

Die junge Frau befindet sich damals ebenfalls auf dem Heimweg vom Bierfest. Sie fährt nach dem Aufprall, den sie für einen Wildunfall hält, weiter. "Ich hatte eine Art Blackout, wie wenn ich automatisch weitergefahren bin", sagt die Angeklagte, die nervös und angespannt wirkt.

Zu Hause weckt sie ihren Vater und fährt mit ihm den Weg ab. Sie finden die Unfallstelle, Glasscherben und ein Schuh liegen auf der Fahrbahn. Der Vater setzt den Notruf ab. Matthias H. wäre laut ärztlichem Gutachten aber auch nicht mehr zu retten gewesen, wenn die Autofahrerin eher Hilfe geholt hätte. Er erleidet einen Schädelbruch, Knochenbrüche überall - und erstickt an seinem eigenen Blut.

Besondere Bedeutung hat die Aussage des Unfall-Sachverständigen. Dekra-Ingenieur Stefan Luther kommt zu dem Ergebnis, dass der Unfall auch für einen nüchternen Autofahrer nicht vermeidbar gewesen wäre. Die Angeklagte sei sehr weit rechts und vorschriftsmäßig mit 60 bis 70 km/h gefahren. Im Abblendlicht habe sie den dunkel gekleideten Mann erst 15 bis 20 Meter vor dem Aufprall gesehen. Zu spät, um anhalten oder ausweichen zu können. Dazu hätte sie höchstens 30 bis 35 km/h fahren dürfen.

Daraus ergeben sich zwei rechtliche Fragen, die das Gericht in seinem Urteil, das am Freitag verkündet wird, beantworten muss: Durfte die Angeklagte so weit rechts fahren? Und: Hätte sie das Fernlicht einschalten müssen?

Sorgfaltspflichtverletzung?

Für Rechtsanwalt Till Wagler aus Kronach, der die Eltern vertritt, steht fest: Es liegen zwei Sorgfaltspflichtverletzungen der Angeklagten vor. Sie hätte besonders vorsichtig sein müssen, weil sie gewusst hat, dass sie betrunken ist. Wäre sie 40 Zentimeter weiter links gefahren und mit Fernlicht, hätte die Kollision vermieden werden können. "Sie hat sich eines Vergehens der fahrlässigen Tötung schuldig gemacht", sagt Wagler und beantragt, das Urteil der ersten Instanz aufzuheben.

Die Staatsanwaltschaft, die nicht in die Berufung gegangen ist, hält das Kulmbacher Urteil - unter anderem 120 Stunden gemeinnütziger Arbeit - in vollem Umfang für zutreffend. Staatsanwalt Ludwig Peer sieht keine objektive Sorgfaltspflichtverletzung. Es liege kein alkoholbedingter Fahrfehler vor, für die Autofahrerin habe das Rechtsfahrgebot gegolten, und es gebe in der Straßenverkehrsordnung keine Vorschrift, wann das Fernlicht einzuschalten ist. Peer: "Es bleiben also nur die vorsätzliche Trunkenheit im Verkehr und das unerlaubte Entfernen vom Unfallort."

Die Antwort des Verteidigers

Verteidiger Thomas Dolmány aus Nürnberg, der sich vollinhaltlich der Staatsanwaltschaft anschließt, spricht die besondere Tragik an: dass Matthias H. kein Taxi bekommt, dass ihn sein Bruder im Auto eines Freundes nicht mitnehmen kann und "dass er auf der verdammten rechten Seite läuft". Dolmány betont, dass seine Mandantin für ihr ganzes Leben gezeichnet ist, dass sie psychotherapeutische Behandlung benötigt und dass ihre ganze Familie leidet. Er vergisst aber auch die Familie des Opfers nicht und beantwortet die Frage nach "ein bissla Gerechtigkeit" so: "Beide tragen Schuld. Matthias hat eine Mitschuld, aber dass die Angeklagte die überwiegende Schuld trägt, wurde nie in Frage gestellt."