Bei den Anschlägen auf die USA vor 20 Jahren stirbt der Cousin von Hubertus Habel an Bord eines der Todesflieger. Für den Kulturwissenschaftler, der in Thurnau geboren wurde, ist der persönliche Verlust die eine Seite der Medaille. Die andere: die unheilvolle Spirale der Rache.
Der "Tower of Voices", der Turm der Stimmen, summt sein Lied auf einem Feld in den Bergen von Somerset County, Pennsylvania. 40 Windspiele schwingen in der Spätsommerbrise, stellvertretend für die 40 Menschen, die hier ihr Leben verloren haben am dunkelsten Tag der USA. An 9/11. Eine dieser verhallten Stimmen gehört Christian Adams, damals Vizegeschäftsführer des deutschen Weinbauinstituts. Er saß an Bord von United Airlines 93, jener Boeing 757, die als einzige der vier Terrormaschinen ihr Ziel - das Weiße Haus - verfehlte und sich im Sturzflug im Nirgendwo auflöste.
Adams' Cousin Hubertus Habel sitzt heute Tausende Kilometer entfernt in Coburg und grübelt über die Zusammenhänge, die Bilder, die familiäre Tragödie 20 Jahre nach dem Unfassbaren. Für den gebürtigen Thurnauer, der seit vielen Jahren in der Vestestadt lebt und arbeitet, hat das nicht mehr die damalige emotionale Wucht, was unter Schicksal oder Zufall zu subsumieren wäre. Dennoch passt beides. "Christian sollte gar nicht an Bord sein. Er hat den Platz mit einer Frau getauscht."
Der damals 37-Jährige wollte zu einer Weinmesse in San Francisco reisen. Er hätte den Termin nicht einmal unbedingt wahrnehmen müssen - aber er wollte das Berufliche mit dem Privaten verbinden und im Anschluss seinen Bruder treffen, der als Computerfachmann in Kalifornien lebte.
Erstarrt vor dem Fernseher
Jetzt kochen die Ereignisse natürlich wieder hoch angesichts der vielen Dokus und Augenzeugenberichte - auch wenn Hubertus Habel versucht, sich nicht in den Gedenkmarathon hineinziehen zu lassen. An jenem 11. September 2001 weiß der heute 61-Jährige lange nicht, dass die Bilder aus Übersee seine Familie unmittelbar betreffen. "Ich war an dem Vormittag bei mir im Garten, als mein Nachbar rüberkam und meinte, er habe da was Aufregendes aus New York im Internet erfahren. Ab da sind meine Frau und ich vor dem Fernseher gesessen." Erstarrt wie vermutlich Millionen Menschen angesichts der brennenden Zwillingstürme des World Trade Centers; der sich in Panik in die Tiefe stürzenden Büroangestellten; der Staubwolke über der Millionenstadt. "Ich erinnere mich an diese grauen Gestalten, die aus den kollabierenden Türmen torkelten."
Wäre das nicht schon irreal genug, wird das Ganze vollends zum Wahnsinn, als die ersten Bilder aus Shanksville über die Schirme flimmern. "Selbst als das mit der abgestürzten Maschine dort bekannt wurde, war uns nicht klar, dass Christian dabei umgekommen ist." Das sickerte erst einen Tag später durch, als Christian Adams Witwe offiziell informiert wurde, dass ihr Mann auf der Passagierliste stand. "Das erklärte dann auch, warum er sich just seit dem Zeitpunkt des Absturzes nicht mehr gemeldet hatte."
Amerika brauchte Helden
Über das Drama in den Wolken ist viel spekuliert worden. Angeblich hatten die Insassen des Fliegers das Cockpit stürmen wollen, in dem die vier Al-Kaida-Entführer um Ziad Jarrah die Kontrolle über Flug 93 übernommen hatten. Ein Film mit diesem Titel stellt den angeblichen Aufstand der Passagiere nach, deren Eingreifen indirekt zum Absturz der Maschine über freiem Feld geführt haben soll. Zweifelsfrei belegt ist das bis heute nicht. Aber: Amerika brauchte Helden in der Stunde seiner größten Verwundbarkeit seit Pearl Harbor.
Hubertus Habel hat sich den Film nie angeschaut. "Das ist Hollywood." Ob sein Cousin einer der Aufständischen hätte sein können? Er überlegt. "Christian war ein besonnener Charakter, immer wohl überlegt handelnd. Ich denke: eher nein. Es ändert letztlich auch nichts daran, dass alle ums Leben gekommen sind. Aber immerhin haben sie vermutlich noch viel größeres Leid verhindert."