Küpser begleitete DDR-Flüchtlinge imZug

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Wenn Herbert Gögelein den Ordner mit den Bildern vom Oktober 1989 aufschlägt, wird der frühere Bankvorstand emotional. Die Fotos zeigen unter anderem ein Kind, das durchs Zugfenster eine westdeutsche Zeitung entgegennimmt. Foto: Hendrik Steffens/privat
Wenn Herbert Gögelein den Ordner mit den Bildern vom Oktober 1989 aufschlägt, wird der frühere Bankvorstand emotional. Die Fotos zeigen unter anderem ein Kind, das durchs Zugfenster eine westdeutsche Zeitung entgegennimmt.  Foto: Hendrik Steffens/privat
Rotkreuz-Helfer laden durch ein Fenster Proviant auf den Zug. aufladen.
Rotkreuz-Helfer laden durch ein Fenster Proviant auf den Zug. aufladen.
 
Herbert Gögelein 1989 mit seiner schlafenden Frau Christa im Zug.
Herbert Gögelein 1989 mit seiner schlafenden Frau Christa im Zug.
 

Herbert Gögelein fuhr Zug mit DDR-Flüchtlingen, die im August 1989 aus der Prager Botschaft ins Bayerische Hof kamen. Der Küpser half als Einsatzleiter des Kreis-BRK. Am Sonntag jährt sich der Einsatz. Denkt er an die Ankunft der Geflohenen, kommen ihm die Tränen.

Ein Blick ins Fotoalbum bringt ihn zurück. Es ist früher Morgen am 5. Oktober 1989. Herbert Gögelein steht, eingepackt in eine Winterjacke, am Bahnsteig in Hof. Bei ihm ist eine Gruppe aus Männern und Frauen des Kronacher Roten Kreuzes. Sie haben Verpflegung, Decken und Hygieneartikel dabei für die erwarteten Flüchtlinge aus der DDR. Um 6.55 Uhr fährt die erste Bahn ein. Aus den Fenstern rufen Menschen "es lebe die Freiheit". 25 Jahre später kommen Herbert Gögelein wieder die Tränen.

Bis zu seinem Ruhestand war der 64-jährige Gögelein Vorstand bei der Küpser Raiffeisenbank. Er ist ein Mensch, der Daten und Ordnung mag . In einem schwarzen Ordner bewahrt er seine sortierten Andenken an die Zeit kurz nach dem Tag der Deutschen Einheit auf, der an diesem Freitag gefeiert wird. Wenn er den Ordner aufschlägt, die Fotos und Notizen sieht, ist seine Ruhe weg. "Ich hatte keine Ahnung, was da auf mich zukam.
Es wurden einige der denkwürdigsten Stunden meines Lebens", sagt Gögelein.

Eine Rede, die vieles änderte

Am 30. September trat Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon der deutschen Botschaft in Prag. Um den dort untergebrachten DDR-Flüchtlingen mitzuteilen, dass ihre Ausreise möglich ist. Hunderte Männer und Frauen aus den ostdeutschen Gebieten waren auf das Gelände geflüchtet, hoffend, von dort aus die Sowjetische Besatzungszone verlassen zu können. Ein halbes Dutzend Züge fuhr noch in der Nacht des 30. Septembers gen Bundesrepublik ab.

Vier Tage später, am Mittwoch, 4. Oktober 1989, um 19 Uhr wird Herbert Gögelein verständigt. Er soll mit einer Gruppe des BRK-Kreisverbands Kronach Flüchtlinge aus der DDR empfangen und einen Zug weiter begleiten nach Bruchsal in Baden Württemberg, 20 Kilometer nördlich von Karlsruhe. Gögelein ist aufgeregt. "Ich wusste, dass der Auftrag kommen würde. Nur nicht wann. Als der Anruf kam, saß ich beim Arzt, um mir Erkältungsmittel zu holen", erinnert er sich.

Am frühen Morgen fährt der erste Zug ein. "Die Flüchtlinge schauten alle zu den Fenstern heraus und riefen: ,Es lebe die Freiheit' oder ,Wir sind frei' und hatten Tränen in den Augen", hat Gögelein damals in seinen Einsatzbericht geschrieben. "Das wird mir immer nahe gehen", sagt er 25 Jahre nach der Nacht am Hofer Bahnhof mit brüchtiger Stimme.

Um 8.15 Uhr beginnen Gögelein und seine Kameraden am Gleis zehn mit dem Beladen des Zuges, den sie später nach Bruchsal begleiten werden. "Unser Zug bestand aus zehn Waggons, die über 700 Flüchtlinge aufnehmen konnten", hat er notiert. Seine Gruppe des BRK schafft Sanitätsgüter, Decken, Wassererhitzer, Nahrung und Getränke an Bord.

Minuten später treffen "ihre" Flüchtlinge ein. Mütter strömen aus den Abteilen, versorgen ihre Kinder mit Fläschchen, wickeln und beruhigen sie. "In der Prager Botschaft konnten sie ihre Kinder kaum pflegen. Da herrschte Chaos", sagt Gögelein. Die Flüchtlinge hatten auf dem überlaufenen Grundstück der Botschaft mehrere Nächte im Freien zugebracht, oft ohne frische Kleider und ohne geregelten Zugang zu Toiletten und Waschräumen. Als die 724 Menschen in den Zug zur Weiterfahrt einsteigen, riecht es streng.

Die Euphorie der Flüchtlinge kühlt ab, als die Helfer des BRK an die Kabinentüren treten: "Unsere Kameraden wurden mit Skepsis von den Flüchtlingen empfangen. Sie wollten unsere Hilfe zuerst gar nicht annehmen", liest Gögelein aus seinem Protokoll. Zu sehr erinnern die Rot-Kreuzler in ihren grauen Uniformen an die Staatsmacht der DDR, vor der die Zuginsassen geflohen waren. Mit belegten Brötchen und heißen Getränken überzeugen die Helfer ihre Schützlinge von der guten Absicht.

Mächtiger als ein hoher Politiker

Obwohl die Flüchtlinge am Nachmittag des 5. Oktober seit mehr als 30 Stunden unterwegs sind, denken nur die wenigsten an Schlaf. Kinder sind unruhig, Eltern hungrig und nervös. Als gegen 14 Uhr der Baden Württembergische Innenminister Dietmar Schlee (CDU) den Zug in Stuttgart anhalten lässt, wird Gögelein sauer. "Ich habe gesagt, er könne doch auch nach Bruchsal kommen und müsse die Leute nicht jetzt stressen". Dem Einsatzleiter wurde recht gegeben und der Zug fuhr weiter. An diesem Tag, in diesem Zug, hatte der heute 64-jährige Küpser mehr zu sagen als ein ranghoher Politiker. Bei dem Gedanken grinst Gögelein.

Je näher die Fliehenden der Endstation in Bruchsal kommen, desto nachdenklicher werden sie. ",Wie geht es weiter?', ,Können wir uns heute duschen oder waschen?'" hat der damals 39-Jährige notiert. Und sagt: "Ich konnte ihnen keine Antwort geben. Die Situation war für mich ja auch völlig neu."

Am Bruchsaler Bahnhof waren die Zweifel weggewischt. Tausende Bürger erwarteten die Flüchtlinge. Fremde fielen sich in die Arme. Wieder werden Herbert Gögeleins Augen feucht. "Das werde ich nie vergessen. So etwas erlebt man wohl nur einmal", sagt er.

Herbert Gögelein betont, dass die Begleitung und Betreuung der Flüchtlinge "seines Zugs" im Oktober 1989 Teamarbeit war. Er dankt Wiegand Beinke, Berni Hofmann, Peter Seiboth und seiner Frau Christa Gögelein, für deren Mitarbeit.