Schließlich traf er am 15. Februar endlich seine Mutter und Schwester in der Nähe von Landeshut. "Die Welt war für mich wieder in Ordnung." Die Rote Armee kam aber auch hier näher und die Flucht ging am 2. März weiter. Am 5. März stand im Bahnhof Trautenau ein Zug bereit. Helmut Glissnik stieg mit seiner Mutter und seiner achtjährigen Schwester ein. "Wir erfuhren, dass der Zug mit uns allen nach Kronach in Oberfranken fahren würde. Dort würden wir bei Privatleuten untergebracht."
Das Ziel erreicht
Früh um 3 Uhr hielt der Zug am 10. März in Kronach auf Gleis 3. "Auf dem Bahnsteig las ich das Schild Kronach. Endlich war das genannte Ziel erreicht. Wir mussten im Zug bleiben, bis es Tag wurde. Unser Wagen hielt auf der Höhe des Hotels Frankenwald. Als es hell wurde, sagte ich freudestrahlend zu meiner Mutter: Da gibt es Bäume, da gibt es etwas zum Heizen."
Gegen 7 Uhr kamen Menschen zum Zug. Es wurde bekanntgegeben, dass die Flüchtlinge den Zug verlassen sollten. In der Zwischenzeit waren verschiedene Transportfahrzeuge und Traktoren mit Anhängern vorgefahren. Jedes Fahrzeug fuhr in verschiedene Dörfer des Frankenwaldes. "Als wir an der Reihe waren, nahmen wir auf zwei Anhängern eines Traktors Platz. Es war die Spedition Lenker in der Alten Ludwigsstädter Straße. Über die Güterstraße und Nordbrücke ging es erst rechts herum und dann bei der Gärtnerei Dorsch links einen steilen Berg hinauf. Spontan rief ich: ,Wir fahren auf eine Alm'. Auf den zwei Anhängern waren ungefähr 30 Personen. Wir kamen in eine Ortschaft, auf deren Schild der Name ,Gehülz, Kreis Kronach' stand. Nach einiger Zeit, in der es weiter bergauf gegangen war, blieben wir vor einem Gasthaus stehen. Ein Mann kam auf uns zu. Er stellte sich als Bürgermeister von Gehülz vor. Wir wurden von ihm begrüßt, er hieß Frisch. Er sagte, dass wir alle in ein Gasthaus gehen sollten. Der Gastraum war gefüllt von uns Flüchtlingen. Der Bürgermeister ordnete an, die Gastwirtin solle den Ofen einheizen. Mit großem Widerwillen tat sie dies dann doch. Wir spürten, dass wir hier nicht gern gesehene Gäste waren."
Glissnik erinnert sich weiter, dass der Bürgermeister ein Kuhgespann von der gegenüberliegenden Landwirtschaft Hempfling beorderte. Nach einem Belegungsplan wurden die ersten Flüchtlinge in das untere Dorf gebracht. "Nach mehreren Stunden waren wir an der Reihe. Meine Mutter, meine Schwester und ich zogen weiter den Berg hinauf." In Brand angekommen, erhielt eine Frau bei der Familie Hans Rauh ihr Zimmer angewiesen. "Wir sollten schräg gegenüber zur einer Familie kommen. Diese ließ uns aber nicht herein." Das Zimmer werde für den staublungenkranken Mann gebraucht, hieß es. "Ich saß draußen auf der Straße bei unserem Gepäck. Nach einiger Zeit kam eine Frau aus einem anderen Haus und lud mich zu einer heißen Tasse Milch ein. Auf unser Gepäck gab ihr Sohn Acht. "Diese gute Tat der Agnes Schneider werde ich nie vergessen."
Stall zum Zimmer umgebaut
Spontan bot sich Johanna Biesenecker an. "Wir durften in ihren Ehebetten schlafen - ihr Mann war ja an der Front. In dem Haus befand sich auch ein leerer Stall, der wurde schnell zu einem Zimmer umgebaut. Ich fand hier schnell wieder Freunde. Durch die Mitarbeit bei den Bauern verdiente man sich das Essen. Ich hätte es mir niemals träumen lassen, dass ich als Großstädter mit Kühen die Wiesen und Felder bearbeiten würde. Wir begannen ärmlichst, um es uns einigermaßen wohnlich zu machen."
"Nach Kriegsende wollten wir zunächst nach Gleiwitz zurück, aber das war nicht möglich. Wir kamen im Gasthaus Popp in Brand im Nebenraum des Tanzsaales unter. Im Juni 1946 ergab es sich, dass wir auf den Judenhof umziehen konnten. Die alte Bauersfrau Fischer war allein. Ihr Sohn Georg war in russischer Gefangenschaft. So halfen wir alle in der Landwirtschaft mit."
Am 2. Dezember 1946 fing Helmut Glissnik bei der Maschinenfabrik Weber in Kronach als Lehrling an. Er blieb hier 49 Jahre lang. Vom Judenhof über Ziegelerden ging es den Berg hinunter in die Bamberger Straße in Kronach. Abends denselben Weg zu Fuß bergauf zurück. Im März 1950 hatte er ausgelernt. Von seinem ersten Monatslohn, der damals 180 Mark betrug, kaufte er sich bei der Firma Breu in Kronach ein NSU-Fahrrad. Im Februar 1949 lernte er seine spätere Frau Maria kennen. Am 13. Februar 1955 war Hochzeit und er zog nach Breitenloh ins Haus seiner Schwiegereltern. Schließlich baute er 1960 ein eigenes Haus, in das er 1961 einzog. "So habe ich 1961 endgültig hier in Gehülz meine zweite Heimat gefunden."