In Gehülz eine zweite Heimat gefunden

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Endgültig in der neuen Heimat angekommen: Helmut Glissnik (Mitte) heiratet seine Maria (links), geborene Fugmann.
Endgültig in der neuen Heimat angekommen: Helmut Glissnik (Mitte) heiratet seine Maria (links), geborene Fugmann.
Helmut Glissnik 1937 am Schulanfang.
Helmut Glissnik 1937 am Schulanfang.
 

Am 10. März 1945 brachte ein Zug zahlreiche Flüchtlinge nach Kronach. Unter ihnen befand sich auch Helmut Glissnik, der als damals 13-Jähriger zum Ende des Zweiten Weltkrieges sein Zuhause in Gleiwitz verlassen musste.

Es ist der 10. März 1945. Früh um 3 Uhr hält auf Gleis 3 im Kronacher Bahnhof ein Zug voller Flüchtlinge - darunter auch der damals 13-jährige und heute 88-jährige Helmut Glissnik.

Es war der 21. Januar 1945. Helmut Glissnik war im oberschlesischen Gleiwitz alleine zu Hause geblieben, weil er in der Schule nichts verpassen wollte. Seine Mutter war mit der jüngeren Schwester Edeltraud bereits zu Bekannten ins Riesengebirge geflüchtet, der Vater war drei Jahre zuvor gestorben. Wie immer am Sonntag besuchte Helmut um 11 Uhr den Kindergottesdienst. Anschließend war Mittagessen bei Onkel und Tante. "In den Gesprächen erfuhr ich, dass die Lage immer bedrohlicher wurde. Viele Militärfahrzeuge mit Soldaten sah man durch die Stadt fahren. Nachmittags ging ich ins Kino am Stadtgarten." Es lief die federleichte Schlagerkomödie "Wir machen Musik" mit Ilse Werner und Viktor de Kowa aus dem Jahr 1942.

Der Kontrast zur Wirklichkeit konnte kaum größer sein. Danach ging er ein letztes Mal zur Wohnung in der Scharnhorstraße. "Ich schlief auch noch einmal dort. Zuvor hatte ich schon von allem Abschied genommen. Bin noch einmal durch alle Zimmer gegangen, auch durch das Zimmer in dem mein Vater dreieinhalb Jahre vorher gestorben war." Es sollte die letzte Nacht dort gewesen sein. Wichtig waren ihm die wenigen Familienfotos, die er einpackte.

Eiserne Ration

Helmut ging zu seiner Tante Anna, die ein Gasthaus führte. Den gepackten Rucksack und das Köfferchen hatte er schon dort stehen. "Meine Tante packte mir ein Brot und eine Dose Schmalz in den Rucksack, was meine eiserne Ration werden sollte." So gegen 16 Uhr fuhr ein Militärlastwagen vor. Die Fahrt ging in die Keithkaserne. "In der Kaserne verbrachten wir die Nacht, an Schlaf war kaum zu denken."

Glissnik erinnert sich, dass es am 23. Januar in der Kaserne schon früh um 3 Uhr sehr hektisch war. "Der Russe war bereits im Stadtteil Petersdorf und bis zum Hauptbahnhof vorgedrungen. Wir - das waren Soldaten, Frauen und Kinder - bestiegen Kettenmannschaftswagen, die nur mit Planen abgedeckt waren." Drei Soldaten, acht Frauen und zwölf Kinder fanden Platz. Es war großes Glück, dass es noch Nacht und dunkel war. "Diesem Umstand hatten wir es zu verdanken, dass uns die russischen Panzer nicht erspähten. Unterwegs überholten wir Flüchtlinge, die mühsam auf Schlitten ihr Gepäck zogen und durch den Schnee stapften. Bei Temperaturen unter minus 20 Grad! Da wir nur sehr langsam vorbeifahren konnten, sah ich, wie Mütter ihre erfrorenen Babys am Straßenrand im Schnee begruben."

Es folgten viele Zwischenstationen über das Sudetenland. Am 13. Februar erreichte Helmut Glissnik Dresden. Die Stadt war voller Menschen auf der Flucht nach Westen. Er wollte zu Mutter und Schwester ins Riesengebirge, also in die Gegenrichtung. Um 22 Uhr sollte dieser Zug starten. Glissnik setzte sich am Bahnhof auf seinen Koffer und war wohl eingeschlafen. Gegen 21 Uhr wachte er auf, der Zug nach Görlitz stand schon bereit. "Ich stieg in den fast leeren Zug. Das frühzeitige Einsteigen in diesen Zug rettete mir das Leben." Gegen 21.45 Uhr heulten die Sirenen: Fliegeralarm.

Leuchtraketen

Der Zug setzte sich in Bewegung. Außerhalb von Dresden hielt der Zug auf freier Strecke. "Schon auf den letzten Minuten Fahrt im Zug sah ich das von vielen Leuchtraketen erhellte Dresden. Da die Stadt in einem Talkessel liegt und wir auf einer Anhöhe standen, konnte man alles mitverfolgen. Plötzlich wackelten sogar die Waggons, so schwer waren die Erschütterungen durch die Bombenabwürfe. Es war gespenstisch. Nach einer halben Stunde war alles vorbei." Die Stadt brannte an vielen Stellen, überall stieg Rauch auf. "Den 13. Februar werde ich nie in meinem Leben vergessen. Zurückblickend muss ich erkennen, dass ich viele Schutzengel hatte."

Schließlich traf er am 15. Februar endlich seine Mutter und Schwester in der Nähe von Landeshut. "Die Welt war für mich wieder in Ordnung." Die Rote Armee kam aber auch hier näher und die Flucht ging am 2. März weiter. Am 5. März stand im Bahnhof Trautenau ein Zug bereit. Helmut Glissnik stieg mit seiner Mutter und seiner achtjährigen Schwester ein. "Wir erfuhren, dass der Zug mit uns allen nach Kronach in Oberfranken fahren würde. Dort würden wir bei Privatleuten untergebracht."

Das Ziel erreicht

Früh um 3 Uhr hielt der Zug am 10. März in Kronach auf Gleis 3. "Auf dem Bahnsteig las ich das Schild Kronach. Endlich war das genannte Ziel erreicht. Wir mussten im Zug bleiben, bis es Tag wurde. Unser Wagen hielt auf der Höhe des Hotels Frankenwald. Als es hell wurde, sagte ich freudestrahlend zu meiner Mutter: Da gibt es Bäume, da gibt es etwas zum Heizen."

Gegen 7 Uhr kamen Menschen zum Zug. Es wurde bekanntgegeben, dass die Flüchtlinge den Zug verlassen sollten. In der Zwischenzeit waren verschiedene Transportfahrzeuge und Traktoren mit Anhängern vorgefahren. Jedes Fahrzeug fuhr in verschiedene Dörfer des Frankenwaldes. "Als wir an der Reihe waren, nahmen wir auf zwei Anhängern eines Traktors Platz. Es war die Spedition Lenker in der Alten Ludwigsstädter Straße. Über die Güterstraße und Nordbrücke ging es erst rechts herum und dann bei der Gärtnerei Dorsch links einen steilen Berg hinauf. Spontan rief ich: ,Wir fahren auf eine Alm'. Auf den zwei Anhängern waren ungefähr 30 Personen. Wir kamen in eine Ortschaft, auf deren Schild der Name ,Gehülz, Kreis Kronach' stand. Nach einiger Zeit, in der es weiter bergauf gegangen war, blieben wir vor einem Gasthaus stehen. Ein Mann kam auf uns zu. Er stellte sich als Bürgermeister von Gehülz vor. Wir wurden von ihm begrüßt, er hieß Frisch. Er sagte, dass wir alle in ein Gasthaus gehen sollten. Der Gastraum war gefüllt von uns Flüchtlingen. Der Bürgermeister ordnete an, die Gastwirtin solle den Ofen einheizen. Mit großem Widerwillen tat sie dies dann doch. Wir spürten, dass wir hier nicht gern gesehene Gäste waren."

Glissnik erinnert sich weiter, dass der Bürgermeister ein Kuhgespann von der gegenüberliegenden Landwirtschaft Hempfling beorderte. Nach einem Belegungsplan wurden die ersten Flüchtlinge in das untere Dorf gebracht. "Nach mehreren Stunden waren wir an der Reihe. Meine Mutter, meine Schwester und ich zogen weiter den Berg hinauf." In Brand angekommen, erhielt eine Frau bei der Familie Hans Rauh ihr Zimmer angewiesen. "Wir sollten schräg gegenüber zur einer Familie kommen. Diese ließ uns aber nicht herein." Das Zimmer werde für den staublungenkranken Mann gebraucht, hieß es. "Ich saß draußen auf der Straße bei unserem Gepäck. Nach einiger Zeit kam eine Frau aus einem anderen Haus und lud mich zu einer heißen Tasse Milch ein. Auf unser Gepäck gab ihr Sohn Acht. "Diese gute Tat der Agnes Schneider werde ich nie vergessen."

Stall zum Zimmer umgebaut

Spontan bot sich Johanna Biesenecker an. "Wir durften in ihren Ehebetten schlafen - ihr Mann war ja an der Front. In dem Haus befand sich auch ein leerer Stall, der wurde schnell zu einem Zimmer umgebaut. Ich fand hier schnell wieder Freunde. Durch die Mitarbeit bei den Bauern verdiente man sich das Essen. Ich hätte es mir niemals träumen lassen, dass ich als Großstädter mit Kühen die Wiesen und Felder bearbeiten würde. Wir begannen ärmlichst, um es uns einigermaßen wohnlich zu machen."

"Nach Kriegsende wollten wir zunächst nach Gleiwitz zurück, aber das war nicht möglich. Wir kamen im Gasthaus Popp in Brand im Nebenraum des Tanzsaales unter. Im Juni 1946 ergab es sich, dass wir auf den Judenhof umziehen konnten. Die alte Bauersfrau Fischer war allein. Ihr Sohn Georg war in russischer Gefangenschaft. So halfen wir alle in der Landwirtschaft mit."

Am 2. Dezember 1946 fing Helmut Glissnik bei der Maschinenfabrik Weber in Kronach als Lehrling an. Er blieb hier 49 Jahre lang. Vom Judenhof über Ziegelerden ging es den Berg hinunter in die Bamberger Straße in Kronach. Abends denselben Weg zu Fuß bergauf zurück. Im März 1950 hatte er ausgelernt. Von seinem ersten Monatslohn, der damals 180 Mark betrug, kaufte er sich bei der Firma Breu in Kronach ein NSU-Fahrrad. Im Februar 1949 lernte er seine spätere Frau Maria kennen. Am 13. Februar 1955 war Hochzeit und er zog nach Breitenloh ins Haus seiner Schwiegereltern. Schließlich baute er 1960 ein eigenes Haus, in das er 1961 einzog. "So habe ich 1961 endgültig hier in Gehülz meine zweite Heimat gefunden."