Einige Wochen später forderte die AOK ihn auf, den Krankenkassenbeitrag zu zahlen, „obwohl ich nullkommanull Einkommen hatte.“ Gezahlt hat Müller nicht, weil er ja vor Gericht gezogen, das Verfahren in der Schwebe war. Die Kosten liefen auf, summierten sich auf inzwischen mehrere tausend Euro. Kurz darauf strich die Kasse die psychotherapeutische Behandlung für den freiwillig versicherten Mann. Hintergrund dieser Entscheidung ist wohl der im Sozialgesetzbuch festgeschriebene Notlagentarif, der für Nichtzahler ausschließlich die Aufwendungserstattung für Leistungen vorsieht, die zur Behandlung von akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen sowie bei Schwangerschaft und Mutterschaft erforderlich sind. „Fahrlässig“ sei das, hat der Therapeut der Kasse mitgeteilt, so Müller. Genutzt hat dessen Attest erst einmal genauso wenig wie das des Hausarztes Monate zuvor.
Der Groll gegenüber der Kasse wuchs. Er empfinde eine Mischung aus Ohnmacht und Wut, sagt Müller. Doch die bringt ihn natürlich nicht weiter. Inzwischen hat er sich einen Anwalt genommen, der den Fehler im ersten Einspruch entdeckte. Gemeinsam gehen sie den Weg der Klage von vorne. „Es wird ein steiniger Weg“, sagt er. Aber es gehe um sein Seelenheil. „Ich drehe durch, wenn ich wieder Opfer von Willkür werde.“
Derweil kämpft Müller weiter mit sich und der Krankheit, lange – und bald wieder – ganz ohne fachliche Unterstützung. „Der Therapeut würde ja kein Geld kriegen, das könnte ich gar nicht verlangen“, sagt er – wohl wissend, dass es ihn immer weiter zurückwirft, wenn er nicht in Behandlung ist. Kurz nach dem Gespräch mit der Redaktion meldet sich die AOK noch einmal bei ihm. Die Therapie müsse nicht weitergeführt werden, der Mann sei nicht akut bedroht. Die Kasse gewährt ihm noch einige wenige Sitzungen, um das Vertrauensverhältnis zwischen ihm und dem Therapeuten zu beenden.
„Es geht da gar nicht darum, meine Heilung zu erreichen“, so Müller, der kaum noch schläft, die ganze Nacht grübelt, vom Bett auf das Sofa wechselt. Der Streit mit der Krankenkasse paralysiert ihn so, dass er sich für nichts mehr begeistern kann. „Die Ärzte sagen, ich soll raus, unter die Leute. Aber das schaff' ich nur ganz selten. Ich bin so antriebslos.“
Mehr als ein halbes Jahr ohne Einkommen, das geht nur, weil Müller vom Ersparten lebt und keine Familie hat. „Aber was macht jemand, der Kinder ernähren muss?“, fragt er. Die Krankenkassen hätten eine soziale Verpflichtung, und die würden sie nicht mehr wahrnehmen, kritisiert er – und das ist für ihn auch der Hauptgrund, warum er überhaupt an die Öffentlichkeit geht. „Am liebsten wäre mir, wenn ich alle Versicherten aufrufen könnte: Passt auf, dass es Euch nicht auch so geht.“
Diese Botschaft ist ihm wichtig. So wichtig, dass er die schier unüberwindlichen Hürden diesmal gemeistert hat – wenn auch nach mehreren Anläufen. Er hat es geschafft, die Korrespondenz mit der Kasse zusammenzusuchen, die Wohnung zu verlassen, in einen anderen Ort zu fahren, mit jemandem zu reden, den er noch nicht kennt, Vertrauen zu fassen. Andere würden das als Erfolg werten. Thomas Müller nicht. „Das war so schwer, das belastet mich alles so“, sagt er und macht sich mit schweren Schritten auf den Weg zurück – in die Wohnung, ins Bett, in die Depression.
Depression: Die Zahl der Menschen, die unter Depressionen leiden, ist hoch. Etwa fünf Prozent der Bevölkerung im Alter von 18 bis 65 Jahren in Deutschland sind derzeit an einer behandlungsbedürftigen Depression erkrankt, informiert die Stiftung Deutsche Depressionshilfe. Größer ist die Zahl derjenigen, die irgendwann im Laufe ihres Lebens an einer Depression erkranken.
Medizinischer Dienst: Die Medizinischen Dienste beraten die gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen in Fragen der allgemeinen medizinischen und pflegerischen Versorgung und begutachten im Einzelfall, unter anderem bei Fragen zur Arbeitsunfähigkeit,
Notwendigkeit, Art, Umfang und Dauer von Reha-Maßnahmen, Krankehausbehandlungen und häuslicher Krankenpflege. Die Entscheidung über eine Leistung liegt jedoch bei den Kranken- und Pflegekassen. Die Gutachter des MDK greifen nicht in die ärztliche Behandlung ein.
Hilfe im Kassenstreit: Wer Probleme mit seiner Krankenkasse hat, kann sich an die Unabhängige Patientenberatung wenden, die es auch in Würzburg gibt. Ein Interview mit Heike Morris, Juristische Leiterin der Patientenberatung, lesen Sie auf Seite 14