Julia Gilfert sammelt über zehn Jahre hinweg Hinweise zu ihrem Großvater und schreibt ein Buch, das allen Opfern der Nazi-Euthanasie-Morde eine letzte Ehre erweist.
                           
          
           
   
          Es ist eine besondere Familiengeschichte. Und sie wäre wohl nie erzählt worden, wenn sich Julia Gilfert nicht auf den Weg gemacht hätte. Rund zehn Jahre lang hat sie immer wieder recherchiert, war auf Dachböden, in Kellerabteilen und hat staatliche Archive durchforstet. „Ich wollte zeigen, dass es meinen Opa gab“, sagt sie. In ihrem Buch wird nicht nur Walter Frick lebendig, sondern ein grausames Kapitel der deutschen Geschichte gegenwärtig.
       
 Mainbernheim, Landkreis Kitzingen: Hier wohnt Julia Gilfert mit Mann und kleiner Tochter. Hier hat sie ihre Arbeit zu Ende gebracht, den letzten Schliff gegeben. Begonnen hat die Geschichte in ihrem Elternhaus in Lambsheim in der Pfalz, mit einem Traum. In der Nacht auf ihren 18. Geburtstag erschien ihr der Opa im Schlaf. „Ich weiß, wie das klingt“, sagt die 31-Jährige und lächelt. „Aber ich bin ganz sicher keine Esoterikerin und glaube auch nicht an Übersinnliches“. Der Traum war jedenfalls lebendig – und er ließ sie nicht mehr los. Also suchte sie das Gespräch mit ihrem Vater.
 Trauma für viele Familien
 Rund 70 Millionen Menschen sind im Zweiten Weltkrieg gestorben, rund vier Millionen Juden wurden vergast. Schrecken, die viele Jahre lang nicht aufgearbeitet wurden, Traumata, die sich in vielen Familien festgesetzt haben. Ein einziges Bild von Walter Frick hing im elterlichen Haus – im Keller, kaum zu sehen, halb verdeckt von einem Schrank. „Mein Vater konnte mir nur Stichworte zu meinem Opa liefern“, erinnert sich Julia Gilfert. „Es war gruselig.“
 Als Achim Frick ein Jahr alt war, ist sein Vater verstorben. Viel mehr wusste Julias Vater nicht zu berichten. „Ein typisch deutsches Familiengeheimnis der Nachkriegszeit“, sagt die 31-Jährige. Sie wollte mehr wissen, das Schweigen brechen, den Opa – zumindest in ihren Erinnerungen – lebendig machen. Also fing sie an zu recherchieren.
 Bruchstück für Bruchstück
 Auf dem Dachboden des Elternhauses fand sie einen Karton mit Postkarten der Großeltern. Altdeutsche Schrift. Zum Glück hat Julia Gilfert gelernt, sie zu transkripieren. Sie machte sich an die Arbeit, fuhr in der Zwischenzeit nach Zweibrücken. Dort wurde ihr Opa – angeblich – beerdigt. Ein Kommilitone, der in Zweibrücken aufwuchs, nahm sie mit. In seinem Elternhaus tranken die beiden noch einen Tee. „Ich hatte das Gefühl, dass ich hier schon mal war“, erzählt die junge Frau. Wochen später stellt sich heraus, dass ihr Opa in genau diesem Haus aufgewachsen ist.
 Bruchstück für Bruchstück legt Julia Gilfert die Geschichte ihres Großvaters frei. Sie erfährt, dass er in Rostock als Dirigent angestellt war, von dort nach Berlin zog und seine letzten Tage in einer Nervenheilanstalt in Bernau nahe der Hauptstadt verbrachte. Sie nimmt Kontakt zu seiner Schwester auf, findet dort ein Tagebuch, das ein trauriges Kapitel der Familiengeschichte belegen sollte. Ihr Großtante war eine glühende Verehrerin der Nazis, deren Mann ein SS-Führer, der ihren Opa nicht nur in die Nervenheilanstalt einwies, sondern nach rund fünf Monaten, am 7. August 1941, dessen Sterbeurkunde unterschrieb.
 Die Euthanasie-Morde der Nazis waren über Jahrzehnte kein Thema innerhalb der deutschen Geschichtsaufbereitung. Dabei verschwanden rund 300 000 Menschen zu Anfang der 1940er-Jahre (vermeintlich) spurlos. Allesamt Menschen ohne Lobby, zumal im Nazi-Regime: Behinderte, „Arbeitsscheue“, „Asoziale“. Die Bandbreite war groß. „Nutzlose Esser“ wurden sie von den Nazis genannt und erhielten den Stempel: „Lebensunwertes Leben.“ In „Krankentransporten“ wurden sie schließlich zum Sterben geschickt. „Das war so etwas wie der Vorläufer des Holocaust“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. Was Julia Gilfert lange Zeit nicht wusste: Ihr Opa war eines der Opfer.