Wenn am Dienstag um 6 Uhr in Castell der erste Weckruf der Trommler ertönt, beginnt ein ganz besonderer Tag: Zum 200. Mal jährt sich der Bürgerauszug. Als einer der langjährigsten Bürgerwehrler darf Eberhard Sickmüller bei diesem Jubiläum natürlich nicht fehlen.
Kurz nach Abschluss seiner Lehre zog Eberhard Sickmüller zum ersten Mal einen schwarzen Frack an, setzte sich einen Zylinder auf den Kopf und schwang ein Gewehr über die Schulter. So marschierte er stolz beim Bürgerauszug zur Casteller Kirchweih mit. Damals war er 18 Jahre alt. Heuer, 56 Jahre später, legt Eberhard Sickmüller wieder Frack und Zylinder an. Das Gewehr hat er inzwischen gegen einen schmucken Gehstock getauscht. Auch wenn er nicht mehr so gut zu Fuß ist, wie noch vor ein paar Jahren, wollte er bei diesem Bürgerauszug auf keinen Fall fehlen. "Das Jubiläum kann ich mir nach all den Jahren doch nicht entgehen lassen - schon alleine, weil die Anstecknadel nicht in meiner Sammlung fehlen darf." Schließlich ist Sickmüller mit seinen 75 Jahren einer der ältesten und langjährigsten Bürgerwehrler.
Am Dienstag zieht die Casteller Bürgerwehr zum 200. Mal aus. Fast ein Viertel aller Auszüge hat Eberhard Sickmüller mitgemacht - die meiste Zeit davon als einer der Beilträger, die gemeinsam mit dem Gemeindediener, der die Bürgerscheibe trägt, und den Trommlern dem langen Zug der Bürgerwehr voranschreiten. Anfangs war Sickmüller wie alle anderen Gewehrträger. Als aber Ende der 60er Jahre einer der Beilträger sein Amt aus gesundheitlichen Gründen abgab und er vom Bürgermeister gefragt wurde, übernahm er diesen Platz im Zug - und behielt ihn für ganze 40 Jahre.
Beilträger machten den Weg frei Wie die Trommler gehören die Beilträger zu "jeder ordentlichen Bürgerwehr", wie Sickmüller betont. Sie waren diejenigen, die den Bewaffneten den Weg frei machten - von Geäst und Büschen - oder zur Not schnell kleine Brücken zimmerten, um über Wasserläufe zu kommen. "Bei der Bundeswehr heißen die heute Pioniere." 2010 gab er das Beil an seinen Sohn weiter. "Ich hatte dem Bürgermeister eigentlich versprochen, dass ich das Beil so lange trage, wie ich laufen kann." Aber das 40. Jubiläum im Jahr 2009 war ein schöner Punkt zum Aufhören.
Seitdem geht er als langjähriger Bürgerwehrler bei den Honoratioren im vorderen Teil des Zuges mit. "Ich hätte auch wieder das Gewehr getragen, aber der Bürgermeister wollte mich nicht wieder ins Glied zurückschicken", berichtet er schmunzelnd. Mit ihm laufen dort noch andere verdiente Mitglieder sowie die "hohen Herren" der Gemeinde, also der Gemeinderat, die Siebener, der Schulleiter und der Pfarrer. "Für alle, außer die Gäste, ist Frack, Zylinder und Gehstock Pflicht."
Für viele Einheimischen ist der Bürgerauszug der Höhepunkt der fünftägigen Kirchweih.
"Leider konnte ich seit 1956 nicht jedes Jahr dabei sein, weil ich einige Jahre beruflich auswärts war und teilweise gar nicht mehr in Castell wohnte." Wenn es aber ging, hat er sich - wie wohl die meisten Casteller Bürger - extra für die Kerm Urlaub genommen. "Die Kerm ist heilig - wenn's darauf zugeht, werden unsere Männer immer ganz narrisch", sagt seine Frau und lacht.
Die Teilnahme am Bürgerauszug ist so etwas, wie der Casteller Initiationsritus. "Es gehört halt einfach dazu, wenn man Casteller ist." Eine so gemeinsam gelebte Tradition stärke die Dorfgemeinschaft, das Gemeinschaftsgefühl sei an den Kirchweihtagen immer besonders stark. "Wenn es Streit oder Meinungsverschiedenheiten gibt, wird das hinten an gestellt. An der Kerm hat das nichts zu suchen."
Schöne Tradition Sickmüller findet es schön, dass die Tradition bis heute nichts an ihrer Attraktivität eingebüßt hat. "Die Jungen sind genauso dabei und halten sich an die Spielregeln." Heute dürfen die jungen Burschen ab dem 16. Lebensjahr mitmachen - und die sind in der Regel ganz schön nervös. "Das war ich bei meinem ersten Auszug auch", beruhigt Sickmüller alle Jungspunde. Schon das Probeexerzieren am Montagnachmittag sei aufregend - er empfiehlt, es die ersten drei bis vier Jahre mitzunehmen, um ein wenig Sicherheit zu bekommen.
Der Senior selbst sieht dem Auszug gelassen entgegen.
"Nur pressieren tut's am Morgen halt immer." Schließlich muss man pünktlich zur Aufstellung im Dorf sein. Und dann geht es los: Zum Rathaus und zum Schloss, zur Kirche und ins Gasthaus, zum Schießen und zum Mittagessen und am Abend wieder in den Schlosshof und zum Gemeindehaus. "Ich bin eigentlich immer den ganzen Tag unterwegs - aber nüchtern, da ich seit etlichen Jahren keinen Alkohol mehr trinke", betont Sickmüller. Betrunkene gebe es schon genug bei der Kirchweih, meint er augenzwinkernd - früher wie heute. Deshalb ein weiterer Tipp für die Jugend: "Die Hauptsache ist, dass man den Nachmittag noch miterlebt - alles andere wäre ganz schön peinlich."
Da es nach oben hin keine Altersgrenze für den Bürgerauszug gibt, wird Sickmüller wohl schon noch ein paar Jahre mitgehen. "Eigentlich wollte ich mit dem Jubiläum aufhören - aber ich will nicht ausschließen, dass es mich nächstes Jahr dann doch wieder juckt." So lange er die steilen Casteller Berge noch bewältigen kann, wird er also dabei sein - selbstverständlich mit Frack, Zylinder und Gehstock.