Die nackten Zahlen sind beeindruckend. Und die Geschichten dahinter erst recht. 100 Tage lang war Albert Weidner aus Wiesenbronn unterwegs. 2577 Kilometer legte er zu Fuß zurück - auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela.
Als er nach mehr als dreimonatiger Wanderung am 17. Juni auf einem nordspanischen Hügel stand und auf Santiago de Compostela hinunterblickte, da ist ihm trotz warmer Temperaturen ein eiskalter Schauer den Rücken hinuntergelaufen.
Er wollte nicht büßen, er wollte nicht beten, er lief nicht aus Dankbarkeit. Er war nur neugierig. Auf den Weg, auf die Begegnungen, auf die grandiose Landschaft. Ein Zufall hat Albert Weidner und seine Frau auf die Idee gebracht, den Jakobsweg zu laufen. Irmgard Weidner hatte vor sechs Jahren eine Hüftoperation. Die Reha verbrachte sie in Oberbayern. Und da, in der Nähe von Bernau, trafen die Weidners bei einer kleinen Kirche eine alte Frau. Und die erzählte von den Kreuzrittern und vom Jakobsweg. Die Saat war gelegt.
Drei Jahre später sollte sie aufgehen, doch der erste Anlauf scheiterte. Alles war vorbereitet, die Zugkarten zum Ausgangsort Saint-Jean Pied de Port in Südfrankreich gekauft. Eine Wundrose machte Albert Weidner kurzfristig einen Strich durch die Rechnung. Ein Jahr später starteten die beiden, mussten ihre Wanderung aber schon nach 200 Kilometern abbrechen. "Es hat dauernd zu geregnet", erinnert sich Irmgard Weidner. 2013 absolvierten sie dann die restlichen 600 Kilometer bis Santiago de Compostela ohne größere Probleme. Mal davon abgesehen, dass Albert Weidner den größten Teil der Strecke in fremden Schuhen laufen musste, weil sie an einer Herberge vertauscht wurden. Und, dass die 15 bis 16 Kilo Gepäck doch ganz schön auf die Gelenke und die Füße drückten.
Bewundernswert und bescheuert
Die Nase voll vom Pilgern hatten der 66-Jährige und seine ein Jahr ältere Frau danach immer noch nicht. "Ich habe unterwegs einen Holländer getroffen, der von daheim aus losgegangen war", erinnert sich Albert Weidner. Eine Idee setzte sich in seinem Kopf fest. Am 10. März schnürte er seine - neuen - Wanderstiefel, setzte sich den nur noch zehn Kilogramm schweren Rucksack auf und marschierte durch das hölzerne Tor in der Wiesenbronner Koboldstraße. Unterwäsche, Hose und Hemd je doppelt, ein Paar Sandaletten für Abends, einen Umhang gegen Regen, Salben und Verbandszeug für die Fußpflege und ein ultraleichtes Zelt. Viel mehr hatte er für die kommenden 100 Tage nicht dabei. Das Zelt schickte er nach einer Nacht per Post nach Hause.
"Die Reaktionen schwankten zwischen Bewunderung und der Aussage, dass ich bescheuert sei", sagt der ehemalige Ingenieur für Brückenbauwerke bei der Deutschen Bahn und lacht. Gerade am Anfang seiner Wanderung, im Fränkischen und Baden-Württembergischen, reagierten viele Menschen ungläubig. Doch Albert Weidner ging seinen Weg. 25 bis 30 Kilometer schaffte er pro Tag. Und der begann in der Regel um 6.15 Uhr. "Ich laufe gerne am Vormittag", erzählt er. Nach zehn bis zwölf Kilometern legte er die erste Pause ein. Ein Schluck Rotwein, Wasser, eine Brotzeit. Den Blick über die Felder, die Äcker, den Wald oder den See genießen. Und weiter ging's. Am Nachmittag hatte er seine Bleibe für die Nacht gefunden. Jedes Mal. Ohne Probleme. Überraschungen blieben trotzdem nicht aus.
Mal war er ganz allein in einem schlossähnlichen Komplex, mal war der Kühlschrank gefüllt und er konnte sich gegen Spendenbasis bedienen, mal schlief er in einer Kirche, mal in einem ehemaligen Kuhstall, dann in einem Flur zur Toilette, neben einem Getränkeautomat. Sein Zelt hatte er nur einmal ausgepackt. In der Nacht zu seinem 66. Geburtstag am 1. April. Die "Feier" hatte er sich anders vorgestellt.
Um zwei Uhr hatte er alle Klamotten angezogen, die er mitgenommen hatte - und fror immer noch. Um 3 Uhr hörte er die Rehe "bellen" und vorbei springen und um 4 Uhr merkte er, dass sich jede Menge Schnecken für sein Zelt interessierten. Von da an war Schluss mit Zelten. Eine Unterkunft fand Albert Weidner auch ohne Zelt jedes Mal. "Es gibt viele Herbergen auf dem Weg", sagt er. "Und die Herbergsväter sind alle total nett."
Nur einmal in den mehr als drei Monaten hatte der 66-Jährige Pech. Nach mehr als 30 Kilometern Fußmarsch in der Champagne wollte ihn die Herbergsmutter nicht aufnehmen, weil sie gerade auf dem Weg in die Kirche war. Das nächste Dorf lag 19 Kilometer entfernt und hatte nur ein Sterne-Hotel. Die teuerste Nacht seiner Reise kostete 75 Euro. Der Chefkoch machte ihm um 22 Uhr noch ein Omelette. Und weil es eh schon egal war, genehmigte er sich noch einen Champagner.
Ein Euro pro Kilometer
Ansonsten ist das Pilgern kein teurer Spaß. Mit einem Euro pro Kilometer hat Weidner kalkuliert. Abends aß er mit anderen Pilgern in der Herberge oder in einem nahe gelegenen Restaurant. In Irun, in Nordspanien, hat sich seine Frau Irmgard wieder zu ihm gesellt. Gemeinsam sind sie die letzten, exakt 841 Kilometer gelaufen. Diesmal nicht auf dem "klassischen Weg", über Burgos und Leon, sondern an der Küste entlang. "Viel schöner", fand Irmtraud Weidner diesen Weg. Strand und Berge wechselten sich ab. Und er war deutlich weniger frequentiert.
Rund 200.000 Pilger pro Jahr sind auf dem "classico" unterwegs. Auf der nördlichen Route sind es vergleichbar läppische 15.000 Pilger. Viele Spanier und Deutsche haben die beiden dort getroffen. In Frankreich war Albert Weidner vor allem Belgiern und Holländern begegnet. Ein Stück des Weges geht man gemeinsam, ein Stück alleine. In Santiago de Compostela treffen sich alle Pilger am Grab des Heiligen Jakobus.
"Ein wunderbarer Moment", sagt Irmgard Weidner. Ein Moment, der wiederkehrt? Die beiden schauen sich an und zucken mit den Schultern. Vorerst wohl nicht. Aber es gibt ja auch andere Ziele. "Der Weg nach Rom soll sehr schön sein", sagt Albert Weidner und lacht.