Stadtrat lauscht beeindruckt - aber über Hindenburg reden will er nicht

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Aufmerksam und in tiefem Schweigen verfolgte der Stadtrat die Ausführungen von Eva Karl über ihre Recherchen zum Wirken des NS-Staats in Coburg. Als sie eine der Aufstellungen zeigte, wie viel "Gewinn...

Aufmerksam und in tiefem Schweigen verfolgte der Stadtrat die Ausführungen von Eva Karl über ihre Recherchen zum Wirken des NS-Staats in Coburg. Als sie eine der Aufstellungen zeigte, wie viel "Gewinn" in Geld die Deportation einer jüdischen Familie dem Staat gebracht hatte, ging ein merklicher Ruck durch den Stadtrat. "Wir können uns glücklich schätzen, dass wir in einer Gesellschaft leben, die Menschen nicht nach dem finanziellen Gewinn bewertet, den sie aus ihnen erzielt", stellte Oberbürgermeister Dominik Sauerteig (SPD) mit heiserer Stimme fest. Die Stadträte stimmten mit Beifall zu, Nachfragen zum Vortrag gab es nicht. "Wir sind sehr gespannt auf den nächsten Bericht", sagte Sauerteig und verkündete eine Sitzungspause, "weil es nicht angemessen wäre, wenn wir einfach mit dem Alltagsgeschäft weitermachen".

Gut drei Stunden zuvor hatte der Stadtrat ein weiteres historisches Thema auf der Tagesordnung gehabt: Die WPC hatte beantragt, Paul von Hindenburg postum die Ehrenbürgerschaft abzuerkennen. Der Coburger Stadtrat hatte am 2. Oktober 1917, also noch während des Ersten Weltkriegs, dem Generalfeldmarschall und Chef der Obersten Heeresleitung die Ehrenbürgerwürde verliehen.

1933 ernannte Hindenburg, damals Reichspräsident, Adolf Hitler zum Reichskanzler und brachte damit die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht. "Coburg als internationale, tolerante, bunte und weltoffene Stadt sollte Paul von Hindenburg nicht mehr auf der Liste der Ehrenbürger führen", begründete Matthias Schmidt-Curio den Antrag.

Doch der Antrag wurde gar nicht behandelt: Zweiter Bürgermeister Hans-Herbert Hartan (CSU), der zu diesem Zeitpunkt die Sitzung leitete, sah keinen Anlass und keine neuen Erkenntnisse für so eine Entscheidung. Außerdem sei die Ehrenbürgerschaft Hindenburgs mit seinem Tod 1934 erloschen. "Man spürt die Absicht und ist verstimmt", sagte Hartan. "Es scheint so, als wolle Pro Coburg einen neuen Aufreger durch unsere Stadt treiben." Mit dem Thema solle sich der Stadtrat befassen, "wenn wieder Normalität eingekehrt ist und nicht unter Corona-Bedingungen, wenn die Sitzungen möglichst kurz sein sollen". Außerdem solle der Oberbürgermeister bei einem solchen Thema mitdiskutieren können, denn er müsse es ja nach außen vertreten. Sauerteig nahm an einer Sitzung des Krankenhaus-Zweckverbands teil, in der es um den Klinikums-Neubau ging.

23 Stadträte folgten Hartans Vorschlag, den Punkt abzusetzen, 13 hätten weiter diskutieren wollen - neben den Vertretern der WPC die von Bündnis 90/Grüne. Deren stellvertretende Fraktionssprecherin Melanie Becker verschickte noch während der Sitzung eine Pressemitteilung, in der sie sich über die Begründung für die Absetzung des Punktes mokierte: "Es ist erstaunlich und erschreckend, dass auf diese Weise ein weiterer Schritt in Richtung Aufarbeitung der Geschichte und zur Stärkung eines bunten und friedlichen Miteinanders lapidar als unnötig und nicht aktuell abgetan wird - und dieser Ausführung sogar von einem Großteil des Stadtrates mitgetragen wurde. Das Eintreten gegen Rassismus, Antisemitismus und Faschismus sowie das Bekenntnis zu einem bunten, vielfältigen und modernen Coburg ist stets aktuell und keine Aufgabe nur für ruhige Zeiten. Eine Diskussion dieses Themas hätte dem Coburger Stadtrat gut zu Gesicht gestanden." sb