2011 zieht Rainer Detsch nach dem überraschenden Wahlsieg gegen den langjährigen CSU-Bürgermeister Albert Rubel ins Stockheimer Rathaus ein - und mit ihm einige neue Ideen und Ansätze. Am Freitag feiert er seinen 60. Geburtstag.
Viel hält das Notizbuch mit dem schwarzen Einband und dem roten Buchrücken nicht mehr zusammen. In den Ecken hat sich die Pappe teilweise schon aufgelöst. Manche Seiten liegen nur noch lose auf den anderen auf. Achtlos mit nur einer Hand gehalten, würden sie wohl einfach zu Boden segeln. Doch dazu wird es der Mann mit dem schlabbrigen, burgunderfarbenen Sweatshirt und der farblich abgestimmten Basecap auf dem Kopf niemals kommen lassen. Als wäre es ein zerbrechliches Erbstück trägt er das angegriffene Buch in beiden Händen, legt es auf den Tisch und schlägt es auf. "Das ist mein Augapfel, mein Herz, mein Ein und Alles", betont er.
Ungewohnter Einblick
Als der Hamburger Musiker Jan Delay vor neun Jahren sein Soul-Album "Wir Kinder vom Bahnhof Soul" anging, ließ er sich vom NDR auf dem Weg von der Idee zur fertigen Platte begleiten - und gewährte dabei auch Einblick in die Arbeit eines Songschreibers. Er müsse einen Text fühlen. Aufschreiben, wieder durchstreichen. Mal sei es nur ein schnell festgehaltener Gedanke, mal ein Zitat, mal ein Reim - der sich irgendwann in einem Song wiederfindet.
Ein Mann, dem diese Grundhaltung bekannt vorkommen dürfte, trägt keine Basecap über dem dunkelblonden Haar. Statt eines schlabberigen Sweaters, kombiniert Rainer Detsch zur dunkelblauen Jeans ein hellblaues Hemd und ein zur Hose passendes Sakko. "Seit 30 Jahren sammle ich Sprüche", erzählt der Stockheimer Bürgermeister, als unsere Redaktion ihn im Rathaus besucht, und blättert durch sein schwarzes Notizbuch. Auseinanderzufallen droht dieses allerdings nicht, wirkt vielmehr wie frisch gekauft - obgleich schon zahlreiche Seiten gut gefüllt sind.
Zeit für ruhige Minuten
Mit einem Schmunzeln unterbricht der Bürgermeister sein Blättern. "Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein", zitiert er den französischen Philosophen Voltaire. Zitate wie dieses wandern ebenso auf die beigen karierten Seiten wie Gedanken, die er sich um seine Arbeit gemacht hat.
Mal ausformuliert in ganzen Sätzen, mal nur in Stichworten skizziert. "Kommunale Intelligenz nutzen", "ganzheitlich denken" oder "urbane Entwicklung unter Beibehaltung dörflicher Strukturen", stehen dort beispielsweise feinsäuberlich in blauer Schrift als Stichpunkte unter dem unterstrichenen Wort "Bürgerbeteiligung". Was bei Delay im Idealfall in einem Lied mündet, kann bei Detsch in so manche Rede einfließen. "Anderes habe ich auch einfach nur als Gedankenstütze aufgeschrieben, oder, um mich immer wieder mal darauf zu besinnen", gewährt auch er einen Einblick in seine Arbeitsweise.
Einige ruhige Minuten am Tag müsse man sich schon nehmen, um zu reflektieren. Einen intensiven Tag noch einmal nachwirken zu lassen. "Wenn im Rathaus abends ab 18.30 Uhr etwas Ruhe eingekehrt ist, bleibe ich oft noch etwas hier, lege meine Füße auf den Tisch und denke einfach mal nach."
Ohne Wehmut
Auch über die Zahl 60? Die dürfte ihm am morgigen Freitag auf Kuchen oder Glückwunschkarten jedenfalls häufiger begegnen, wenn die Einwohner der drittgrößten Gemeinde des Landkreises ab 9.30 Uhr in der Zecherhalle die Möglichkeit haben, ihrem Bürgermeister zum runden Geburtstag zu gratulieren. "Das ist halt ein Prozess", sagt der Vater dreier längst erwachsener Kinder gelassen. "Man wird älter und ruhiger. Aber ich habe keine Probleme mit meinem Geburtstag und schaue nicht wehmütig zurück. Ganz im Gegenteil!"
Seien es seine acht Jahre als Zeitsoldat bei der Bundeswehr, sein Studium der Elektrotechnik sowie der Verwaltungswissenschaften in Coburg und Mannheim, die Zeit als Berufsberater in Kronach oder die darauf folgende als Leiter der Berufsberatung bei der Agentur für Arbeit in Coburg. Stationen, die ihm auch in seinem Amt im Rathaus helfen, das er seit sieben Jahren führt.
Am 13. Februar 2011 setzte sich Detsch als Kandidat der Freien Wähler überraschend gegen den langjährigen Bürgermeister Albert Rubel (CSU) durch, der zuvor 24 Jahre lang an der Spitze der Bergwerksgemeinde stand.
Eine sonderlich große Umstellung sei das neue Amt dabei gar nicht gewesen. "Weil ich es als Führungsaufgabe verstehe", erklärt Detsch.
Der größte Unterschied zu seiner vorherigen Arbeit sei, dass er nun mehr Rückmeldungen bekomme und die eigene Leistung intensiver beurteilt werde. Wie sehr seine Jahre in der Berufsberatung nachwirken, ist im Rathaus schon im Eingangsbereich zu spüren und zu sehen.
Schon kurz hinter der Schiebetür weisen rote Linien auf dem Boden den Weg zu den inzwischen mit Glasfronten versehenen Bürgerbüros. "Die Schreibtische sind im Grunde so wie man sie auch von der Arbeitsagentur kennt. An der Seite abgerundet, sodass man im Kreis dran sitzen kann", erzählt der Bürgermeister bei einem Rundgang zum Abschluss des Gesprächs begeistert. So könne mit "dem Kunden auf Augenhöhe" kommuniziert werden.
Was elementar ist
Das Wort "Kunde" wähle er dabei ganz bewusst. "Man muss sich nämlich immer vor Augen halten, für wen man da ist." Eine funktionierende Verwaltung sei elementar, und bürgerbezogen zu arbeiten das oberste Gebot. "Man kann nicht immer helfen. Aber dann muss man zuhören und Verständnis aufbringen. Die Leute sollen merken, dass man versucht, zu helfen."
Es sei wichtig, dass gut kommuniziert werde. Und das habe er zusammen mit seinem Verwaltungsteam erreicht. "Das sehe ich auch als eine Art Arbeitszeugnis an", erklärt Rainer Detsch.
Und wofür will er in den kommenden Jahren sein Arbeitszeugnis ausgestellt bekommen? Gibt es ein großes Ziel, auf das er gezielt zusteuert? "Nein, das gibt es nicht. Das würde ja heißen, dass man irgendwann einen Punkt erreicht hätte, an dem man aufhört", findet Stockheims Bürgermeister. Ständig entstünden neue Herausforderungen, auf die eine zeitgemäße und zukunftsfähige Lösung gefunden werden müsse. "Das sind viele kleine Felder, die zu beackern sind."
Zu nennen seien da insbesondere die Dorferneuerung Reitsch, das Projekt Kommunalmarketing und die Sanierung des ehemaligen Verwaltungsgebäudes der Büttnerszeche. Deshalb orientiere er sich an einen weiteren Satz aus seinem Notizbuch: "Als Bürgermeister hat man die Aufgabe, seinen Standort attraktiv zu machen."