Sigismund von Dobschütz Drei Jahre mussten wir auf den zweiten Roman von Dörte Hansen (54) warten, deren Debüt "Altes Land" es auf Platz 1 der Jahresbestsellerliste 2015 geschafft hatte. Im Oktober er...
Sigismund von Dobschütz Drei Jahre mussten wir auf den zweiten Roman von Dörte Hansen (54) warten, deren Debüt "Altes Land" es auf Platz 1 der Jahresbestsellerliste 2015 geschafft hatte. Im Oktober erschien nun ihre "Mittagsstunde" und verspricht, ein ähnlich großer Erfolgsroman zu werden. Hatte Hansen im "Alten Land" die Landflucht der Großstädter zum Thema, die das Landleben zum Bauerntheater verkommen lassen, so nimmt Hansen in ihrem Folgeroman das Thema erneut auf, schildert hier aber die Flucht - oder ist es eher eine Vertreibung? - der Dorfbewohner in die Stadt. Die Bewohner von Brinkebüll, die im Dorf ihrer Vorfahren keine Zukunft sehen, geben ihre angestammte Heimat auf, um in der Stadt neues Glück zu suchen. "Es war so still im Dorf, kein Hund, kein Hahn. Kein Schleifen aus der Tischlerei, kein Hämmern mehr auf Haye Nissens Amboss. (....) Man hörte keine Tiere mehr. Auch nicht die Stimmen, die die Tiere riefen, laut genug, um große Felder zu beschallen." Der große Umbruch kam Mitte der sechziger Jahre mit der Flurbereinigung. Haine, Hecken und Knicks am Rand jener kleinbäuerlichen Felder, die ihre Vorväter über Jahrhunderte beackert hatten, waren verschwunden. Sogar der Findling, der Jahrtausende an derselben Stelle mitten im Acker gelegen hatte, wurde, als Denkmal für die Flurbereinigung missbraucht, an die Ortseinfahrt verbracht. Nichts blieb wie früher, die alte Ordnung der Dörfler war zerstört.
Wie sich das kleinbäuerliche und dörfliche Leben im nordfriesischen Geestdorf über Jahrhunderte nach ungeschriebenen Regeln abgespielt hatte, zeigt Hansen in lebendigen, prallen Bildern und atmosphärisch stimmiger Sprache mit plattdeutschen Einschüben. Voller Mitgefühl beschreibt sie ihre teilweise skurrilen Charaktere voller Ecken und Kanten. Als Leser liebt und leidet man mit diesen Dörflern. Doch trotz aller Empathie schafft es die Autorin, durch die Augen ihres vor Jahrzehnten ausgewanderten Protagonisten Ingwer Feddersen, Archäologe an der Universität Kiel, den objektiven Blick auf die eingeborenen "Dörpsminschen" zu halten. An keiner Stelle ihres Romans läuft sie Gefahr, "die gute alte Zeit" zu verherrlichen. Denn gut war die alte Zeit auf dem Land sicherlich nicht - einer der Gründe für den Wandel.
In den Erinnerungen ihrer Hauptfigur spult Hansen fünf und mehr Jahrzehnte zurück und zeigt diesen Wandel ländlichen Lebens. Der knapp 50-jährige Ingwer Feddersen hat sich in Kiel eine einjährige Auszeit genommen, um seine 90-jährigen Großeltern Sönke und Ella in seinem Heimatdorf zu pflegen. Ella leidet an zunehmender Demenz, aber Sturkopf Sönke steht sogar mit Rollator noch tagtäglich am Tresen seines Dorfkrugs. Doch längst bleiben die Gäste aus. Erst verschwanden die Hecken, dann die Störche. Die alten Kastanien am Straßenrand wurden gefällt, die Chaussee verbreitert, begradigt und asphaltiert. Die von den Bewohnern früher stets eingehaltene Ruhe zur Mittagsstunde wird jetzt gestört. Wenige Höfe wachsen, die kleinen Nebenerwerbshöfe werden aufgegeben. Städter kaufen die Hofgebäude und zimmern sich ihre eigene, unwirkliche Landidylle zurecht.
In detailreichen und humorvoll geschilderten Episoden, die sich kapitelweise wie ein Puzzle zu einem farbigen Gesamtbild erschließen, erfahren wir einiges aus dem Dorfleben - auch manches, worüber dort niemand spricht: Nicht einmal Ingwer Feddersen kennt seinen Vater. Auch dass nicht Großvater Sönke, sondern Dorflehrer "Krischan" Steensen der leibliche Vater seiner schrulligen Mutter ist, wissen zwar alle, aber man spricht nicht drüber. Hansen beschreibt das Dorfleben als hartes, oft erbarmungsloses und tragisches Dasein. Doch die Dörfler hielten zusammen und hatten sich immer klaglos in ihr Schicksal gefügt: Nur drei Käsesorten im kleinen Laden? "Mehr bruukt wull keen normale Minsch!" Auch den Dorfladen gibt es längst nicht mehr.
Dörte Hansens Roman ist ein wunderbares, ausgezeichnetes und unbedingt lesenswertes Stück Heimatkunde.