Vor 100 Jahren kämpften die Arbeiter in Forchheim um Anerkennung

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Das industrialisierte Forchheim auf einer Ansichtskarte nach 1900Repros: Franze
Das industrialisierte Forchheim auf einer Ansichtskarte nach 1900Repros: Franze
Auf einer Wahlpostkarte verunglimpft das Zentrum die Sozialdemokraten als "rote Vaterlandsverräter". Der Grund: Die Sozialdemokraten lehnten die deutsche Kolonialpolitik ab.
Auf einer Wahlpostkarte verunglimpft das Zentrum die Sozialdemokraten als "rote Vaterlandsverräter". Der Grund: Die Sozialdemokraten lehnten die deutsche Kolonialpolitik ab.
 
Karl Michael Oertel
Karl Michael Oertel
 
Jakob Jena
Jakob Jena
 
Karl Grillenberger
Karl Grillenberger
 
"Der rote Siegfried" nach der erfolgreichen Wahl von 1912
"Der rote Siegfried" nach der erfolgreichen Wahl von 1912
 
Erinnerungskarte mit den Mitgliedern der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion
Erinnerungskarte mit den Mitgliedern der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion
 

In diesem Jahr feiert die Sozialdemokratie ihren 150. Geburtstag. In Forchheim hatte der anfangs gerade einmal 17-jährige Karl Michael Oertel großen Anteil daran, dass sich die Arbeiterbewegung als politischer Faktor etablierte.

Vor 100 Jahren hat die Sozialdemokratie ihr 50. Gründungsjubiläum gefeiert. Sie tat das zu einer Zeit, in der es in Deutschland noch einen Kaiser und in Bayern einen König gab. Ein Jahr zuvor war die Sozialdemokratie bei den Reichstagswahlen erstmals die stärkste Fraktion im Reichstag geworden.

In Forchheim hatte es die Arbeiterbewegung, wie Helmut Schwarz in seinem Buch "Forchheim im Industriezeitalter 1848-1914" schreibt, angesichts des "konservativ-klerikalen Grundklimas der Stadt" dagegen schwer. Erst mit der Gründung der Buntweberei Weber & Ott fassten sozialdemokratisch orientierte Lohnarbeiter in Forchheim Fuß.

Es waren Textilarbeiter, die 1873 in Hof am ersten organisierten Streik in Oberfranken teilgenommen haben und deswegen entlassen worden sind.

Mit ihnen kam im April 1875 Jakob Jena auf der Suche nach Arbeit in die Stadt. Auf seine Initiative hin gründete sich im November 1876 eine erste sozialdemokratisch orientierte Arbeiterorganisation als Ortsgruppe der "Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeitergewerkschaft", an deren Spitze August Bebel und Wilhelm Liebknecht standen.

lnformationen für die Genossen

Wie in ganz Deutschland fielen auch die Forchheimer Gewerkschafter 1878 unter das Verbot des Sozialistengesetzes und mussten ihre Tätigkeit einstellen. Ein Nachrichtenaustausch war überaus schwierig.

In dieser Situation gelang es Karl Grillenberger von Nürnberg aus, die Genossen zusammenzuhalten. Beruflich hatte er von 1869 bis 1873 als Werkführer in der Gasfabrik gearbeitet und in Forchheim sogar für ein halbes Jahr gewohnt. 1874 übernahm er hauptberuflich die Chefredaktion des Nürnberg-Fürther Social-Demokraten, der ab 1878 als Fränkische Tagespost auch in der Verbotszeit von Nürnberg aus die Genossen in der gesamten Region mit Informationen versorgte.

Überregionale Bedeutung hatte in dieser Phase Forchheim als zeitweise Versandzentrale für die im Schweizer Exil gedruckte Mitgliederzeitung "Der Sozialdemokrat". Grillenberger hatte ab Frühjahr 1883 als Vorsichtsmaßnahme den Versand von Nürnberg nach Forchheim verlagert. "Verantwortlich für die organisatorische Abwicklung dieser Tätigkeit, auf die eine mehrjährige Gefängnisstrafe stand", schreibt Helmut Schwarz, "war ein gerade 17-jähriger Forchheimer: Karl Michael Oertel."

Oertel holte die großen Kisten, die aus der Schweiz kamen, mit weiteren Genossen am Bahnhof ab, teilte in der Drogerie seines Stiefvaters den Inhalt auf kleine Paketen auf und gab sie dann - um nicht auffällig zu werden - auf mehreren Postämtern zum Versand: in Forchheim, Hirschaid, Baiersdorf und Erlangen.

16 Tage in Haft

Ein Jahr lang ging alles gut, bis ein nicht zustellbares Paket aus Hannover zurückkam und die Polizei Hausdurchsuchungen vornahm. Weil sie von dem Irrläufer erfahren hatten, konnten die Forchheimer Genossen noch rechtzeitig alles Belastende entfernen.

Bei Jakob Jena aber wurden zwei Exemplare der verbotenen sozialdemokratischen Mitgliederzeitung gefunden. Zur Strafe musste er 1884 für 16 Tage in Haft.

Trotz des Parteiverbots durfte die SPD bei allen Wahlen kandidieren und entwickelte sich im Kaiserreich bis 1912 zur stärksten Fraktion im Reichstag. Nach Stimmen waren sie schon 1890 und damit noch in der Verbotszeit stärkste Partei geworden.

1881 gewann Grillenberger den Wahlkreis Mittelfranken 1 (Nürnberg) und zog als erster und einziger bayerischer Sozialdemokrat in den Reichstag ein. Danach verteidigte er im "roten Nürnberg" vier Mal in Folge erfolgreich sein Mandat.

Sozialdemokraten gewinnen Stimmen

Als Grillenberger 1897 starb, setzte sich in der Nachwahl am 2. Dezember der von ihm geförderte Karl Michael Oertel durch. Bei der Reichstagswahl 1878 erhielten die Sozialdemokraten in Forchheim 54 Stimmen, was 9,6 Prozent bedeutete. 1881 waren es noch ganze 13 Stimmen oder 4,9 Prozent.

Die Zustimmung der Wähler stieg in den beiden folgenden Wahlen aber rasant auf 181 Stimmen oder 26,2 Prozent respektive auf 174 Stimmen, die einem Anteil von 22,7 entsprachen. "Seit den Wahlen des Jahres 1884", schreibt Helmut Schwarz, "war die Sozialdemokratie nach dem Zentrum die zweitstärkste Partei in Forchheim und ließ die beiden liberalen Parteien in der Wählergunst weit hinter sich."

Wieder war es Jakob Jena, der maßgeblich die Gründung eines sozialdemokratischen Wahlvereins betrieb. 1891 zeigte Christoph Rausch als Vorsitzender dem Magistrat an, dass sich der "Textilfacharbeiter-Verein" am 3. Oktober 1891 aufgelöst habe und nun "an dessen Stelle der Allgemeine Arbeiter-Verein für Forchheim und Umgebung" getreten sei.

Wenig später übernahm Jena die Führung im Ortsverein, der 61 meist jüngere Mitglieder hatte. Sie alle bezeichneten sich als "Fabrikarbeiter".

Eine große Gemeinschaft

Nach Paragraf 2 seiner "Statuten" verfolgte der "Allgemeine Arbeiter-Verein" fünf Ziele. Diese waren
a) Aufklärung der Mitglieder "durch Vorträge und Diskussionen über alle den Arbeiter interessierende Tagesfragen, besonders auf wirtschaftlichem, politischem und wissenschaftlichem Gebiete";
b) Bei "Wahlen zu allen gesetzgebenden und Verwaltungskörperschaften" sich für Männer einzusetzen, "welche die Interessen der Arbeiter nach allen Seiten zu wahren suchen";
c) die "Gewährung von unentgeltlichen Rechtsschutz bei gewerblichen Streitigkeiten, soweit die Vereinsmittel dies gestatten";
d) die "Pflege der Geselligkeit unter den Mitgliedern und ihren Familienangehörigen" sowie
e) die "Errichtung einer Bibliothek".

Aus diesen Zielen geht hervor, dass sich der "Arbeiter-Verein" über die politische und gewerkschaftliche Interessenvertretung hinaus als umfassende Sozialgemeinschaft verstand, die in der spürbaren Klassengesellschaft um Anerkennung kämpfte.

Nach der bayerischen Gemeindeordnung vom 29. April 1869 waren Arbeiter und Dienstboten in Städten nur dann wahlberechtigt, wenn sie hier seit mindestens zehn Jahren ihren Wohnsitz hatten, nicht auf die Armenfürsorge angewiesen waren und die örtlich festgesetzte Bürgerrechtsgebühr entrichtet hatten. Diese entsprach einem durchschnittlichen Lohn für sieben Wochen Arbeit.

Forchheims Gebühren orientierten sich laut Helmut Schwarz "an der gesetzlich erlaubten Höchstgrenze und lagen damit beispielsweise deutlich über den Nürnberger Sätzen". Auf diese Weise sicherte sich das konservative Bürgertum seine Machtstellung in der Stadt. Im Jahr 1878 entschieden gerade einmal ganze 319 wahlberechtigte Bürger über die Besetzung des Magistrats.