Mittwoch Morgen sah sich Landrat Eberhard Irlinger erst in Lonnerstadt um und sprach dann mit der Presse. Seine Eindrücke machen die Fernsehjournalistin Beate Greindl "sprachlos". Dennoch scheint sich etwas zu bewegen.
Manchmal redet Landrat Eberhard Irlinger (SPD) die schönen Bilder richtig herbei. Dann spricht er vom Ofen, der eine mollige Wärme macht, vom netten Vater, von einer selbstbewussten Mutter und intelligenten, aufgeschlossenen Kindern. Gut genährt und in einer liebevollen Umgebung würden Radha, Johannes und Michael in Lonnerstadt aufwachsen, erzählt Irlinger den Journalisten.
"Ich bin sprachlos von dem, was Sie da sagen", kontert die Fernsehautorin Beate Greindl. Ihr am vergangenen Donnerstag ausgestrahlter Film "Sektenkinder - zum Dienen geboren" hat die ganze Region erschüttert. Das einsturzgefährdete, ausgekühlte Haus, die Kinder, die um Essen betteln, die Eltern, die einem Guru folgen, der vor Jahren ein Kind fast verhungern und ohne Medikamente fast sterben ließ - "warum nehmen Sie das alles nicht ernst?", fragt sie den Landrat.
Ortstermin am Morgen
Im Sitzungssaal des Landratsamtes warten an diesem Mittwoch schätzungsweise 20 Reporter auf Antworten. Er, Irlinger, sei selbst im Kleebauernhaus in Lonnerstadt gewesen, habe mit Eltern und Kindern gesprochen. Die Atmosphäre sei herzlich. Nur auf Nachfrage räumt er ein, dass dies erst unmittelbar vor der Pressekonferenz geschah: "Ich kann nicht überall hingehen, wo das Jugendamt irgendeinen Fall hat. Dafür hab' ich doch meine Zuständigen."
Ob es sein könnte, dass man ihm etwas vorgespielt habe, möchte ein Reporter wissen. "Ich war Lehrer. Ich weiß, wie Kinder in verwahrlosten Familien reagieren", empört sich Irlinger. Die Eindrücke, die Beate Greindl gewonnen hat, als sie sich als potenzielle Interessentin bei den "Weltdienern" einschleuste, um Hintergrundmaterial zu bekommen, zieht der Landrat in Zweifel: "Etwas tendenziös in meinen Augen." Greindl sei schließlich auch keine objektive Instanz.
147 Hinweise, fünf Hausbesuche
Seit 2004 sei das Jugendamt mit der Familie in ständigem Kontakt. Auch mit den Schulen. Hinweisen auf Kindeswohlgefährdungen - in diesem Jahr 147 für den gesamten Landkreis - gehe man stets nach. Seit Dezember 2011 habe es fünf Hausbesuche - auch unangemeldet - gegeben, ergänzt Sachgebietsleiterin Heike Krahmer. Sie spricht von 33 Aktivitäten in den letzten elf Monaten: "Eingriffe in die Privatsphäre müssen wir immer auch rechtfertigen."
Eine ärztliche Untersuchung der Kinder habe am Dienstag erbracht, dass ihr allgemeiner Gesundheitszustand "gut" ist. Jedoch: Die Frage, ob die Lonnerstadter Kinder krankenversichert sind, muss Wolfgang Fischer, Jurist und Abteilungsleiter Kommunales und Jugend am Landratsamt, verneinen. Auf den Hinweis, dass eine Versicherungspflicht für alle bestehe, kann er nur einen Fernsehbericht zitieren, wie oft diese Regel in Deutschland missachtet wird.
Heuer habe das Jugendamt in Erlangen 36 Mal Kinder aus ihren Familien nehmen müssen. In Lonnerstadt habe sich bislang kein Handlungsbedarf ergeben. Vielmehr, so der Landrat, würde die jetzige Situation die Kinder belasten: "Mahnwachen helfen nicht, sondern schaden."
Ergebnis von Gutachten erst 2013
Nun müsse, so Otto Schammann, Fachbereichsleiter Allgemeiner Sozialdienst am Landratsamt, ein gerichtspsychologisches Gutachten ausweisen, ob "die gewählte Lebensform der Eltern zu einer Gefährdung des seelischen oder geistigen Wohls der Kinder" führt. Mit dem Ergebnis sei im Frühsommer 2013 zu rechnen: "Aber das muss schneller gehen", findet Irlinger.
Und er räumt ein, dass nachgeprüft werden muss, ob damals, als die Kinder der Lebensgefährtin des Gurus aus Ailsbach flohen, Fehler von Seiten des Jugendamtes gemacht wurden. Das ist zehn Jahre her. "Wir müssen erst die Akten sichten", sagt Eberhard Irlinger und bekundet, mit Barbara, Kilian und Konrad in Kontakt treten zu wollen.
Man spürt, wie betroffen dieser "alte Fall" den Landkreischef macht. Und wie sehr ihn der Inhalt von vielen der über 200 Briefe und E-Mails trifft, die ihn in den letzten Tagen erreicht haben. "Glauben die denn alle, sie seien die Guten und wir die Bösen? Wir wollen doch nur eines: Den drei Kindern helfen."
Als die Mikrofone und die Kameras weggepackt werden, sind viele Gesichter nachdenklich. "Vielleicht", hofft Beate Greindl, "tut sich jetzt ja hinter den Kulissen etwas."
... ist fürwahr gestraft. Wie war das mit "Nutzen mehren" und "Schaden abwenden"? Alles schon vergessen?
Das bayrische Landesjugendamt hat klare Merkmale definiert, die bei so genannten Sekten und Psychogruppen als kindeswohlgefährdend eingestuft werden können. Hier nachzulesen:
http://www.blja.bayern.de/themen/jugendschutz/sekten/TextOfficesStrukturmerkmale.html
Die Aussage, dass die "Sektenkinder nicht gefährdet" seien, wäre nach diesen Maßstäben objektiv falsch. Es besteht natürlich weiterhin die Frage, ob die Kinder bei den Eltern leben sollen oder nicht. Das muss sorgsam abgewogen werden. Aber die Lebensregeln der Eltern und ihre Indoktrination der Kinder im alltäglichen Leben begründet sicherlich schon lange Handlungsbedarf, der über Beobachtung der Familie und kontroverse Gespräche mit den Eltern hinausgehen.
Ein Verfahrensbeistand der Kinder sollte also die Interessen der Kinder vertreten, ggf. auch gegen die Eltern und gegen das Amt. Wenn die Großmutter z.B. bereits wegen einer notwendigen Brille ein familiengerichtliches Verfahren führen musste, ist es doch reichlich blauäugig, auf die Aussagen der Eltern zu vertrauen, dass sie bei Krankheit natürlich einen Arzt hinzuziehen würden. Hier muss man mit hoher Sicherheit annehmen, dass sich seit dem Leidensweg des kranken Kilians nichts an den arztfeindlichen Grundüberzeugungen verändert hat.
Dass die Kinder sich ncht kritisch zu ihrem Elternhaus äußern, ist nicht verwunderlich. Sie haben einen großen Teil der Einstellungen der Sekte bereits übernommen und kennen bisher keine echte Alternative dazu. Folglich macht ihnen jede Veränderung massive Angst, auch wenn sie leiden. Es ist eher verwunderlich, dass der Landrat (auch wenn er Lehrer war) meint, mit Gesprächen einen validen Eindruck vom Seelenleben der Kinder erlangen zu können. Dafür brauchen selbst wir Kinderpsychologen unter solchen Umständen vermutlich Monate.
Ich bin entsetzt über die Art und Weise wie sich LR Irlinger über die Zustände bei dieser Sekte in Lonnerstadt
hinwegsetzt. Der Normalbürger wird angezeigt wenn er seinen Versicherungspflichten nicht nachkommt und
hier wird Alles noch schön geredet. Dieser LR ist sicherlich in der dieser Angelegenheit total überfordert und
sollte schnellst möglich durch einen kompetenten Fachmann ersetzt werden. Haben wir wir hier in unserem Rechtsstaat keine Möglichkeiten gegen solche Sektenauswüchse vorzugehen? Hier werden doch unsere Behörden verhöhnt. Selbst die Berichte der mutigen Fernseh-Journalistin werden noch in Frage gestellt?
In welchen Lande leben wir denn hier eigentlich? Ich bin über diese Situation mehr als traurig.
F.W . aus Bamberg
In Bezug auf den Zeitungsbericht des FT vom 27./28.10.12 steht in der Stellungnahme unseres Landrats geschrieben, daß über das Jugendamt
bei den Sektenkindern mehrere Besuche stattgefunden haben. Waren sie wirklich in demselben Haus, welches in der WDR-Sendung ausführlich
gezeigt wurde? Entweder haben sie dort alle ihre Augen verschlossen oder der Bericht ist einfach nur schön geredet und wirkt wie eine Ausrede.
Hätte Hr. Irlinger seine 3 Kinder früher auch bei knapp über 0 Grad Celsius und schimmeligen Wänden schlafen lassen?
Ist es dem Jugendamt egal, wenn die Kinder ständig krank, in der Schule übermüdet und hungrig sind?
Wir hoffen, daß das Jugendamt endlich einschreitet bevor es zu spät ist, so daß den Kindern keine psychischen Schäden bleiben.
Muß immer erst etwas Schlimmes passieren, bevor etwas unternommen wird?
"Hut ab" vor dem Engagement der Großeltern, die aber ohne Hilfe der Bevölkerung und Behörden nichts erreichen werden.
In einer liebevollen Pflegefamilie wären die Kinder auf alle Fälle besser aufgehoben und könnten somit ein unbeschwerteres Leben führen.
Es ist auch keine Werbung für den Lonnerstädter Bürgermeister, sein Haus an solch einen Menschen zu vermieten.
Das erste, was das Familiengericht prüfen müsste (natürlich auf Antrag des Jugendamtes), ist: die sofortige Übertragung der Gesundheitssorge und der finanziellen Sorge auf einen Dritten, der die Interessen der Kinder vertritt.
Dann können die Kinder gemäß der gesetzlichen Grundlage krankenversichert werden und ggf. ärztlichen und psychologischen Behandlungen zugeführt werden. Nur so können sie auch die Sozialleistungen erhalten, die ihnen gesetztlich zustehen (ALG II). Diese Rechte der Kinder sind hier derzeit eindeutig durch das Elternverhalten verletzt. Diese Interessen müsste eigentlich auch sofort ein Verfahrenspfleger der Kinder bei Gericht einfordern Ist es bekannt, ob ein solcher Verfahrenspfleger schon bestellt wurde? Wenn nein, ist das ein nicht nachvollziehbares Versäumnis, da mindestens in den o.g. zwei Sorgerechtsbereichen die Interessen der Kinder im klaren Widerspruch zu den Interessen der Eltern stehen.
Ob darüber hinaus Gründe vorliegen, den Eltern weitere Teile des Sorgerechts zu entziehen und ggf. die Kinder woanders unterzubringen (oder andere Auflagen im Rahmen der Hilfen zur Erziehung zu machen), wird das beantragte Gutachten hoffentlich bald feststellen. Auch hier kann der Verfahrenspfleger der Kinder ggf. vorab Anträge stellen, falls vor der langen Gutachtenbearbeitungsphase schon dringender Handlungsbedarf besteht.
H.B.
Diplom-Psychologin, Kinderschutzfachkraft