Das Maß aller Dinge - festgelegt hat's der Architekt des Nürnberger Quelle-Baus

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So sah das Quelle-Versandhaus um 1963 aus. © Museum Industriekultur, Nürnberg
So sah das Quelle-Versandhaus um 1963 aus. © Museum Industriekultur, Nürnberg
So sieht es heute beim ehemaligen Versandhaus aus.Foto: Ronald Rinklef
So sieht es heute beim ehemaligen Versandhaus aus.Foto: Ronald Rinklef
 
Foto: Ronald Rinklef
Foto: Ronald Rinklef
 
Foto: Ronald Rinklef
Foto: Ronald Rinklef
 
Blick in ein Quelle-Treppenhaus© Museum Industriekultur, Nürnberg
Blick in ein Quelle-Treppenhaus© Museum Industriekultur, Nürnberg
 
90 m hoch ist der 1964 gebaute Quelleturm, in dessen Inneren sich zwei Ziegelkamine befinden. Seit 2006 steht er unter Denkmalschutz.Foto: Ronald Rinklef
90 m hoch ist der 1964 gebaute Quelleturm, in dessen Inneren sich zwei Ziegelkamine befinden. Seit 2006 steht er unter Denkmalschutz.Foto: Ronald Rinklef
 
Der QuelleturmFoto: Ronald Rinklef
Der QuelleturmFoto: Ronald Rinklef
 
Architekt Ernst Neufert (links) mit Quelle-Gründer Gustav Schickedanz© Museum Industriekultur, Nürnberg
Architekt Ernst Neufert (links) mit Quelle-Gründer Gustav Schickedanz© Museum Industriekultur, Nürnberg
 

Eine Küchenarbeitsplatte ist 60 Zentimeter tief. Warum? Weil Ernst Neufert das so festgelegt hat. Auch wenn es nur wenige wissen: Der Architekt des Nürnberger Quelle-Versandhauses setzte Standards, die unser Leben bestimmen. Von den Normen beim Reihenhausbau bis zu den Idealmaßen eines Reihengrabs.

Trübe Fensterreihen durchbrechen die gelb-triste Klinkerfassade des Nürnberger Quelle-Baus. Eine Problem-Immobilie, die seit der Insolvenz des Versandhändlers 2009 leer steht. Als der Komplex in den 50ern gebaut wurde, war er eine Weltsensation: im Inneren eine hochtechnisierte Versandmaschinerie, außen eine Spannbetonkonstruktion mit durchgehenden Fenstern und Geschossen, die wie aufeinander gestapelt wirken. Funktionalität eines Industriebaus, der für den Wiederaufbau Westdeutschlands steht. Für das Wirtschaftswunder. Und gleichzeitig für die schlichte Ästhetik und Schönheit der Industriekultur, wie sie die Kunstschule Bauhaus der Weimarer Republik prägte.

Was für ein besonderes Bauwerk der Quelle-Klotz ist, vermittelt eine kleine, feine Ausstellung im Neuen Museum Nürnberg auf wenigen Tafeln und in ein paar Vitrinen. Die Schau ist dem Leben und Werk des Architekten Ernst Neufert (1900 - 1986) gewidmet.
Kaum ein Laie kennt ihn, obwohl er der einflussreichste deutsche Architekt des 20. Jahrhunderts war, unseren Alltag bis heute prägt und in drei Epochen deutscher Geschichte Karriere machte: Weimarer Republik, NS-Diktatur und Bundesrepublik.


Das Norm-Klo

1936 hatte Neufert seine "Bauentwurfslehre" veröffentlicht - ein Buch, das jeder Architekt kennt. Es ist eine Enzyklopädie der Normen und Maße. Auch in Japan, der Türkei oder Indonesien ist "der Neufert" ein Verkaufsschlager. Denn er ist das Maß aller Dinge. Wer ein Restaurant plant, muss nicht überlegen, wieviel Platz ein Mensch braucht, um komfortabel zu essen: Im Neufert findet er, dass in der Breite 60 Zentimeter und 40 Zentimeter in der Tiefe Platz auf dem Tisch sein sollte. Wie weit sollten die Tische auseinander stehen?

Im Neufert gibt es auch dafür ein Idealmaß. Die Kabinen von WC-Anlagen in Hotels und Industriebauten sollten übrigens einen Meter breit und 1,50 Meter tief sein. Die Höhe von Regalen, Straßenlaternen und Brombeergerüsten, die Größe von Parkplätzen für Pkw und die von Bussen, Reihenhäusern und Reihengräbern - Neufert normierte alles.


International ein Bestseller

Standardmaße gab es vorher auch schon: für Nägel und Schrauben zum Beispiel. Aber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde vieles noch handwerklich hergestellt - und jeder Architekt begann von Neuem, zu überlegen, wie groß eine Tür sinnvollerweise sein sollte und wie hoch ein Fenster. Bis Neufert kam. Zuerst normierte er den Menschen: 175 Zentimeter groß, mit beiden Armen zur Seite ausgestreckt auch 175 Zentimeter breit. Neufert maß, wieviel Platz in Länge, Höhe und Breite der Mensch beim Sitzen, Stehen, Liegen, Gehen braucht. Davon ausgehend legte der Architekt Standards fest, die bis heute gelten. Arbeitsplatten und Küchenschränke sind beispielsweise immer noch 60 Zentimeter tief, Türen einen Meter breit.

Die erste Auflage der "Bauentwurfslehre" war rasch vergriffen, nach ein paar Monaten kam die zweite. Aktuell gibt es "den Neufert" in der 40. Auflage (2012). Insgesamt wurden in Deutschland über 300.000 Exemplare gedruckt, in anderen Ländern weitere 500.000. Damit ist die "Bauentwurfslehre" eines der erfolgreichsten Fachbücher der Welt - und wohl der einzige internationale Bestseller der Baugeschichte. Auch wenn die Abbildungen ausschließlich kochender, bügelnder und putzender Frauen heute nicht mehr ganz dem Alltag entsprechen.

Das Buch wird immer wieder aktualisiert, ist aber nicht völlig losgelöst vom Geist seiner Entstehungszeit. Neufert, eigentlich gelernter Maurer, war 1919 als einer der ersten Studenten an das neue Bauhaus in Weimar gekommen, arbeitete mit Bauhaus-Gründer Walter Gropius zusammen, lernte auf einer Spanienreise den greisen Antoni Gaudí und dessen Architektur kennen - und blieb auch in der NS-Diktatur dem von Funktionalismus und Rationalismus geprägten Bauhausstil treu. Obwohl dieser bei den Nazis eigentlich verpönt war, machte Neufert Karriere.


Auf Hitlers "Gottbegnadeten-Liste"

Für rationale Industriebauten konnten sich die Nazis durchaus erwärmen. In der Nürnberger Ausstellung erfährt der Besucher beispielsweise, dass Neufert 1941 seine Studie "Bombensicherer Luftschutz" herausgab und sein Industriebaumaß auch für den massenhaften Bau von Baracken verwendet wurde. Die Machthaber schätzten Neufert: Hitler nahm ihn 1944 in die "Gottbegnadeten-Liste" der wichtigsten Architekten auf. Das ersparte ihm einen Kriegseinsatz.

Trotzdem galt der Architekt rasch als entnazifiziert. Als ihn die britische Besatzungsmacht 1945 verhörte, wurde er in vertraulichen Dokumenten als "internationaler Experte für Normung" gewürdigt. Neufert wurde als wichtig für den Wiederaufbau angesehen, bekam eine Professur für Baukunst an der Technischen Hochschule Darmstadt (an der auch die aktuelle Ausstellung entwickelt wurde). Und er begann, seine charakteristischen Nachkriegs-Entwürfe zu schaffen.


Der zweite Blick

Das ab 1955 errichtete viergeschossige Quelle-Zentrum ist einer seiner bedeutendsten Industriebauten. Es steht gar nicht so weit von der kleinen, aber erhellenden Ausstellung - und wer auf der Rückfahrt vom Neuen Museum am Versandhaus-Klotz in der Fürther Straße vorbeifährt, sieht nicht mehr nur das traurige Bild einer Industriebrache mit ungewisser Zukunft. Sondern ein wenig von dem Glanz, den dieses Ensemble einst gehabt haben muss.


Die Ausstellung

Öffnungszeiten Die Ausstellung "Ernst Neufert" kann noch bis Sonntag, 19. Januar, im Foyer des Neuen Museums am Nürnberger Klarissenplatz besichtigt werden. Geöffnet ist Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18, donnerstags von 10 bis 20 Uhr. Der Eintritt zur Ausstellung ist frei. Weitere Informationen unter www.nmn.de

Führungen Am Sonntag, 12. Januar, um 16 Uhr, außerdem gibt es am Dienstag, 14. Januar, um 17 Uhr, einen Rundgang mit Udo Gleim von der TU Darmstadt, dem Kurator der Ausstellung (kostenlos).