Chemieunterricht mal anders: Die Neuntklässler lernen individuell und eigenständig, experimentieren oder ziehen sich ins Treppenhaus zurück...
Freitag, erste Stunde: Feli und Emma stehen mit Schutzbrille und in weißen Kitteln vor ihren Mitschülern und hantieren mit Reagenzglas und Lackmus. Feli erklärt genau, was da passiert. Christian und Till sitzen derweil unten im Computerraum und besprechen ihr Arbeitsblatt. Auf dem Weg dorthin begegnen wir den Treppenhaushockern: Drei Mädchen sitzen am Boden - mit Blick zur Veste - und fragen sich gegenseitig ab.
Parallelunterricht heißt das Projekt am Ernestinum, das seit diesem Schuljahr im Fach Chemie angeboten wird. Ulrike und Thomas Porombka sind die beiden Lehrkräfte, die sich für die Idee begeistern konnten und bei Schulleiter Bernd Jakob auf offene Ohren stießen. Eine erste Bilanz: "Die Schüler sind eindeutig aktiver geworden." Natürlich sei es am Anfang nicht einfach gewesen, dieses individuelle Lernen anzunehmen.
"Die Kinder sind ganz anders sozialisiert", sagt Jörg Kessel aus der AG Schulentwicklung am Ernestinum. Doch die Individualisierung sei eine große Chance für jeden einzelnen. "Wer sich Wissen selbst aneignet, aus Büchern heraussucht, mit anderen darüber diskutiert und gemeinsam anwendet, am besten noch am praktischen Experiment, wird den Lehrstoff besser im Gedächtnis behalten," sind sich alle Pädagogen einig. Insbesondere schwächere Schüler haben dadurch die Möglichkeit, mehr Zeit mit dem Lehrer für Erklärungen oder Nachfragen zu bekommen. Leistungsstarke Schüler können sich der Expertenprüfung stellen.
Lebenskompetenzen schulen
Neben der Stoffvermittlung, oder besser Aneignung, geht es in dem Projekt auch um das Miteinander, um Kommunikation und Eigenverantwortlichkeit - wesentliche Kompetenzen für das spätere Leben.
Natürlich werden auch Arbeiten geschrieben und es gibt Noten. Verschlechtert haben sich die Schüler bisher nicht, einzelne sogar verbessert. Und was sagen die Schüler selbst dazu? Christian und Till können auf Anhieb nicht sagen, ob das Lernen so nachhaltiger ist. "Es ist auf jeden Fall anders." Ob es Spaß macht und effektiv ist, hänge vom Fach ab. Im vergangenen Jahr hatten die beiden schon Erfahrungen damit im Fach Mathematik gemacht. Das fanden sie nicht so gut. Ganz anders sehen das Luise und Ines. "Mathe war toll, ich habe mich da auch verbessert", sagt Luise. In Chemie sieht sie viele Vorteile an dieser Art des Unterrichts. "Wenn man einmal krank ist, kann man den Stoff problemlos nachholen, da jeder Schüler sowieso auf einem anderen Stand ist", sagt sie. Ines betont schon, dass viel Selbstdisziplin notwendig ist.
"Wenn man keine Lust hat, merkt erst mal keiner, dass man nichts tut." Aber irgendwann muss der Stoff eben doch nachgeholt werden.
Aus der Konzeption von Initiatorin Ulrike Porombka (Lehrkraft Chemie, Biologie):Ziel: Individualisierung und eigenverantwortliches Lernen
Methode: offene, dynamische Freiarbeit
Rahmenbedingungen:Es arbeiten zwei 9. Klassen parallel zusammen. Sie werden von einem Lehrerteam (2 Personen) betreut. Während der Arbeitszeit stehen drei Räume zur Verfügung (Chemielehrsaal, Chemieübungssaal und ein Raum, der mit vier Computern und Puzzletischen ausgerüstet ist). Zudem besteht die Möglichkeit für die Schüler die Nachmittagsstunden je nach Bedarf wöchentlich oder 14-tägig zu besuchen.
Arbeitsbereiche:Den
Schülern stehen verschiedene Arbeitsbereiche zur Verfügung, mit deren Hilfe sie sich das Wissen aneignen können. Als Grundlage dient das Schulbuch, auf das sich alle Materialien beziehen.
In einem Literaturbereich stehen weitere Schulbücher aber auch Fachliteratur zur Verfügung.
Der Medienbereich bietet eine Auswahl an geeigneten Links zu Lehrvideos, Animationen, Internetquellen und interaktiven Lehrprogrammen.
Im Chemieübungssaal besteht die Möglichkeit eigenständig Experimente durchzuführen und sich so den Lernstoff anzueignen.
Zahlreiche Spiele stehen zur Verfügung, mit deren Hilfe die Schüler ihr erworbenes Wissen überprüfen und wiederholen können (Domino, Klammer- und Kartenspiele).
Der strukturierte Bereich arbeitet das Fachwissen mit Arbeitsblättern auf. Diese können mit den Informationen aus dem Schulbuch gelöst werden.
Anhand der ausliegenden Lösungen ist der Schüler selbst in der Lage seine Arbeit zu überprüfen. Zudem steht den Schülern ein Zeitplan in Form einer Wandtafel zur Verfügung.
Im Kommunikationsbereich erarbeiten sich Schüler gemeinsam Inhalte. Hier werden schwächere Schüler durch Experten unterstützt. In Diskussionsrunden werden offene Fragen gemeinsam mit den Lehrkräften diskutiert.
Zur Selbstdiagnose werden den Schülern Übungsaufgaben und Musterarbeiten angeboten.
Leistungserhebung: Mündliche Note aus einem Gespräch, in dem die individuellen Fortschritte festgestellt werden.
Eventuell werden Lernvereinbarungen getroffen und ein weiteres Gespräch auf Wunsch des Schülers zur Notenverbesserung geführt!
Zusätzliche Arbeitsleistung: Der Schüler fertigt eigenständig Arbeitsmaterial für seine Mitschüler an (Beispiele: Lehrvideo, Spiel, Arbeitsblatt, Zusammenfassung wichtiger Inhalte, Modelle,...) Alternativ: Demonstration und Erklärung eines Experiments vor einer Kleingruppen!
Leistungsstarke Schüler können sich der Expertenprüfung stellen!
Am Ende des Themas steht eine schriftliche Leistungserhebung für alle Schüler in Form einer Kurzarbeit bzw. Schulaufgabe!
Eigene Beobachtungen: Die Schüler sind aktiver, sie arbeiten in unterschiedlichen Gruppen zusammen, manche arbeiten über weite Strecken alleine.
Sie gehen auf Mitschüler und Lehrkräfte zu um bestehende Fragen zu klären. Es entsteht kaum Langeweile, meist vergeht die Arbeitszeit wie im Fluge. Am Nachmittag wird nicht so effektiv gearbeitet wie am Vormittag. Zum Teil sind die Schüler
verunsichert, ob sie genug und das Wichtige gelernt haben. Eine Evaluation hat noch nicht stattgefunden.
Anregung und Materialien:Die Anregung zur konkreten Umsetzung einer offenen Unterrichtsform im Chemieunterricht erhielt ich auf einer Fortbildung in Dillingen. Auch ein Großteil der Materialien wurde mir dort zur Verfügung gestellt und dienten als Grundlage für unsere Überarbeitung.