Mit 20 wurde er zum Neonazi

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Heute arbeitet Philip Schlaffer als Keynote-Speaker und ist in der Prävention tätig.
Heute arbeitet Philip Schlaffer als Keynote-Speaker und ist in der Prävention tätig.
privat

Als er sich radikalisierte, war Philip Schlaffer ein Teenager. Bis er den Ausstieg schaffte, dauerte es zwei Jahrzehnte. Nächste Woche spricht er in Coburg.

Philip Schlaffer suchte Anerkennung und das Gefühl, zu einer Gruppe dazuzugehören. Er glaubte, beides im Rechtsextremismus gefunden zu haben und gründete die rechtsradikale "Kameradschaft Werwölfe Wismar". Dann werden ihm der Hass in der Szene und der Druck durch die Polizei zu viel. Wie es dem heute 43-Jährigen gelungen ist, aus der Szene auszubrechen und warum er es für ausgeschlossen hält, rückfällig zu werden - das Interview mit dem Aussteiger.

Herr Schlaffer, wie haben Sie sich radikalisiert?

Philip Schlaffer: Als ich ein kleiner Junge war, ist meine Familie nach England ausgewandert. Ich kam als junger Mann zurück und habe schwer Anschluss in der Schule gefunden, bin sitzen geblieben, von der Schule geflogen, hab mich nicht mehr mit meinen Eltern verstanden. Ich war auf der Suche nach einer Gruppe und Anerkennung - beides wurde mir durch den Rechtsrock und meine neue Clique gegeben. Das ging sehr schnell - anfangs habe ich gar nicht gemerkt, dass ich mich radikalisiert habe. Das war kurz nach der Wende, ich war 15 Jahre alt. Bis ich mich als Neonazi bezeichnet habe, war ich 20 und hatte mehrere Phasen durchlaufen. Auch im Rechtsextremismus gibt es keine Endentwicklung. Es gab immer wieder Phasen, in denen ich mich mehr für das Parteienleben, den Fußball, die Musik oder den germanischen Okkultismus interessiert habe.

Und dann - als Sie Neonazi waren?

Am Anfang ist man ein Sympathisant und plappert alles nach. Ich habe angefangen, den Staat abzulehnen und Leute zu hassen, die ich nicht kannte, und bin aus dem Bürgerlichen ausgestiegen. Man fühlt sich elitär und denkt, dass man zu der Elite, was Besonderem, gehört. Ich wollte ein Teil davon sein und habe mich bewusst dafür entschieden. Die Zusammengehörigkeit und die Überzeugung, als die Guten für das Volk und das Vaterland zu kämpfen, hat mich abgeholt.

Wie sieht der Alltag eines Rechtsextremisten aus?

Der Alltag ist bei einigen, die noch nicht ganz aus dem Gesellschaftsleben ausgetreten sind, ganz normal. Das Drumherum ist anders. Man ist dauerhaft mit der negativen Seite beschäftigt - wir gegen die anderen. Ich habe noch die Schule beendet und eine Ausbildung gemacht und am Wochenende ein Parallelleben geführt. Ich war beim Fußball und auf Demos und habe mich geprügelt. Man macht sehr viele, negative Dinge, hängt mit hassaufgeladenen Menschen ab. Man trifft sich nicht wegen der guten Laune, es geht immer um Krawall, Gewalt und Alkohol. Nach meiner Ausbildung bin ich in die Selbstständigkeit gegangen. Ich hatte einen Versandhandel für Neonazis und weltweit Textilien und CDs verkauft. Ich war ein umtriebiger Geschäftsmann im Bereich Rechtsextremismus.

Wie schafft man es, aus der rechten Szene auszusteigen? Gab es ein Erlebnis, das der Wendepunkt für Sie war?

Ja also ich bin nicht so ein Freund davon, wenn Leute sagen, es gibt ein Erwachen. Das mag bei einigen so sein, aber wenn man sehr lange drin war, verändert man sich nicht über Nacht. Veränderung dauert. Das, was mir am Anfang Positives versprochen wurde, hat sich nicht eingestellt. Es gab viel Gewalt untereinander, Hass und Intrigen. Ich war kein Opfer, sondern ein Täter und habe viele negative Dinge erlebt. Das hat dazu geführt, dass ich mir die Scheiße irgendwann nicht mehr geben wollte. Das war ein Prozess über Jahre. Ich wurde zu Hause von meinen eigenen Kameraden überfallen und der Druck durch die Polizei wurde größer. Meine Kameraden haben sogar jemanden getötet. Die Masse der negativen Dinge hat mich runtergezogen. Mein Körper ist auf Rebellion gegangen, ich hatte psychosomatische Störungen.

Nach dem Ausstieg aus dem Rechtsextremismus haben sie einen Motorradclub gegründet - spielte der Rechtsextremismus hier noch eine Rolle?

Nach dem Rechtsextremismus bin ich 2008 in die organisierte Kriminalität gegangen. Ich musste mir eine bürgerliche Fassade zulegen, weil ich legale Einnahmen brauchte, und hatte unter anderem ein Tattoostudio und eine Reinigungsfirma. Und ich habe einen Motorradclub gegründet und sechs Jahre lang geführt. Nach der Zeit in England war es für mich wichtig, eine Gruppe um mich zu haben. Ich wollte mit dem Rechtsextremismus nichts mehr zu tun haben und habe mir so eine neue Gruppe geschaffen. Ich wollte auf keinen Fall alleine sein. Im Motorradclub war es so, dass Geld und Macht an vorderster Stelle standen. Ich befand mich zu dieser Zeit im Deradikalisierungsprozess, andere aus dem Club waren wahrscheinlich rechtsaffin. Die Clubs sind ein Auffangbecken, zu dem viele gehen. Bei manchen ist Rechtsextremismus ein Thema.

Haben Sie heute Angst, Leute von früher zu treffen? Oder sogar rückfällig zu werden?

Ich habe gar keinen Bock jemanden aus meinem alten Leben zu treffen. Ich bin für alle der Aussteiger und Volksverräter und mir kommt viel Hass entgegen. Deshalb meide ich gewisse Orte generell. Einen Rückfall halte ich für ausgeschlossen. Das wäre auch gar nicht mehr möglich, weil ich für alle der Verräter bin. Außerdem weiß ich, dass es im Rechtsextremismus nichts gibt, was mich abholen oder befriedigen könnte.

Vor wenigen Tagen jährten sich die Anschläge von Halle zum zweiten Mal - was denken Sie, wenn Sie von solchen Ereignissen hören?

Das ist ein kompliziertes Thema, darüber könnten wir eine Stunde diskutieren. In sehr frühen Jahren habe ich Guerillakämpfe auf der Straße befürwortet. Als älterer Rechtsextremist hab ich sie verurteilt, weil sie die Bevölkerung gegen uns aufbringen. Es gibt unterschiedliche Ansichten. Heute bin ich persönlich erschrocken, wenn so etwas passiert. Es ist erschreckend zu sehen, wie schnell sich Leute radikalisieren.

Radikalisieren sich Leute heute Ihrer Meinung nach schneller?

Ja, es geht viel schneller, weil man sich heute mit allem berieseln lassen kann. Wenn ein Schüler ein Referat über Rechtsextremismus hält und sich über das Internet informiert, wird er durch den Algorithmus von Youtube und Google wochenlang mit rechtsextremen Inhalten bombardiert - wer will, findet leicht Gleichgesinnte, zum Beispiel in Foren.

Sie sind mit Ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen. Warum?

Als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, hatte ich erst keine Lust darauf. Nachdem Leute aus der rechten Szene mich runtergemacht haben, habe ich mit einem Video auf Facebook ein Statement gesetzt. Ich hatte damals nur 50 Freunde und das Video wurde 10 000 Mal geklickt. Die Videos sind zu einer Mission für mich geworden. Ich habe den Leuten Input zu dem Thema Rechtsextremismus gegeben und immer mehr Leute haben zugeschaut. Außerdem habe ich mein Leben auf 600 Seiten aufgeschrieben, um alles zu verarbeiten - ich hatte viel verdrängt. Als ich auf Youtube mehr Reichweite hatte, hat sich die Möglichkeit ergeben, ein Buch zu veröffentlichen.

Heute halten Sie Vorträge und sind in der Prävention aktiv - was wollen Sie erreichen?

Die Leute glauben immer, dass man junge Menschen durch einen Vortrag umpolen kann. Es geht vielmehr darum, einen kurzen Impuls zu setzen, wo Rechtsextremismus hinführen kann. Mir hat er mein ganzes Leben und das meiner Eltern ruiniert und selbstverständlich das meiner Opfer. Nach meiner Radikalisierung hatte ich den Kontakt klein gehalten, weil ich eine neue Familie hatte. Jetzt sehe ich meine Eltern mehrmals die Woche und wir haben als Familie die beste Zeit, die wir je hatten. Bei meinen Vorträgen merken die Leute, dass alles real ist, und werden emotional abgeholt.

Die Fragen stellte Cindy Dötschel.

Vortrag und Informationen

Am Mittwoch, 20. Oktober, erzählt der ehemalige Neonazi Philip Schlaffer im Gemeindezentrum St. Augustin (Obere Klinge 1a in Coburg) aus seinem früheren Leben und seinem Ausstieg aus der rechten Szene. Wer den Vortrag besuchen möchte, muss sich vorher per E-Mail unter der Adresse demokratie@vhs-coburg.de anmelden. Es gilt die 3Gplus-Regel: Wer teilnehmen möchte, benötigt einen Impf- oder Genesenen-Nachweis oder ein aktuelles negatives PCR-Testergebnis. In der kommenden Woche wird Philip Schlaffer an mehreren Schulen im Landkreis Workshops und Vorträge

Wer sich ausführlich über Philip Schlaffer und seinen Werdegang informieren möchte, kann dies auf der Website www.philip-schlaffer.de tun. Hier ist unter anderem der Youtube-Kanal des Referenten verlinkt. zum Thema durchführen.