Eigentlich sollte Claudia Ott, Vorsitzende der Jury des Coburger Rückert-Preises, Musik in einem Berliner Museum machen. Doch dann entdeckte die Orientalistin unter den Exponaten ein sensationelles Manuskript: die Geschichten aus einhundertundeiner Nacht.
Es war einmal ein König, der Fortschritt und Wissenschaft förderte. Als ihm ein weiser alter Perser ein Ebenholzpferd, das fliegen konnte, zum Geschenk machte, gab ihm der Regent dafür sogar seine bildschöne Tochter zur Frau. Doch eines Tages setzte sich der Königssohn auf das Pferd und flog davon auf Nimmerwiedersehen, denn er kannte nur den Mechanismus für den Aufstieg des Flugapparats und wusste nicht, wie man ihn wieder landen ließ. Welche Abenteuer der Königssohn unterwegs erlebte und ob er jemals wieder zum Vater zurückkehrte?
Das wollte auch der Sultan wissen, der diese Geschichte von seiner schönen Gemahlin erzählt bekam. Nächtelang fesselte Schahrasad den Herrscher, der die Angetraute eigentlich töten lassen wollte, weil er einen Hass auf alle Frauen dieser Welt hatte. Doch Schahrasad unterbrach stets im spannendsten Moment, blieb dadurch am Leben und erzählte immer weiter.
Einhundertundeine Nacht lang.
Die "kleine Schwester" von 1001 Nacht Richtig gelesen, denn die Sammlung "101 Nacht" ist die "kleine Schwester" der viel berühmteren Geschichten aus 1001 Nacht, die wir alle kennen und lieben. Entdeckt wurde das Manuskript von 1234 vor etwa fünf Jahren durch Zufall: Die Orientalistin Claudia Ott, deren Vater aus Coburg stammt, sollte eine Ausstellungseröffnung in Berlin mit Schätzen aus dem Aga Khan Museum musikalisch begleiten. Als sie die Exponate genauer betrachtete und an der besagten Handschrift vorbeikam, traute sie ihren Augen kaum.
"Ich erkannte sofort, was es war, weil ich mich seit Jahren mit der Übersetzung solcher Werke beschäftige", berichtet die promovierte Wissenschaftlerin, die 2004 die Neuübersetzung von "1001 Nacht" auf den Markt gebracht hatte.
Der Fund war eine Sensation, denn das nahezu vollständige Manuskript ist - neben einem Einzelblatt des Jahres 850 - das älteste schriftliche Zeugnis für diese beiden berühmten Märchen-Sammlungen überhaupt. Bislang galt eine 1001-Nacht-Abschrift von 1450 als älteste Version.
Die "Erfinderin" des Cliffhangers Man weiß aber, dass die Geschichten noch viel früher entstanden: "Es handelt sich um uraltes Kulturgut, das man schon vor 2000 Jahren in Indien niederschrieb", weiß Claudia Ott: "Es wurde aus dem Altindischen ins Persische und von dort um ca. 800 weiter ins Arabische übersetzt.
Erst in der erzählfreudigen arabischen Welt begann die Sammlung aber so richtig zu blühen."
Aufgenommen in die Sammlung wurden Storys unterschiedlicher Genres - historische Geschichten, Anekdoten, Schwänke, Tierfabeln, Zaubermärchen, die allesamt nur eines sein mussten: spannend und aufregend, um die Neugier des Sultans zu fesseln und Schahrasad, der "Erfinderin" des Cliffhangers, jeden Morgen das Leben zu retten. "Wie ein Magnet ist diese Erzählidee durch die arabische Literatur gewandert und hat - klack, klack - alle Geschichten angezogen, die das gewünschte Spannungspotenzial hatten", beschreibt die Wissenschaftlerin.
Populär im arabischen Abendland Warum aber gibt es zwei Sammlungen, die zwar die gleiche Rahmenhandlung (Schahrasad und der Sultan), ansonsten aber völlig unterschiedliche Geschichten besitzen? "Die beiden Sammlungen sind Schwestern: eng
verwandt, aber trotzdem sehr verschieden - wie im richtigen Leben", sagt Claudia Ott. 1001 Nacht, die große und schon damals weltbekannte Erzählsammlung, hatte den Orient für sich erobert, das arabische Morgenland, das sich von Ägypten über Iran und Irak bis nach Nordindien zog. "Es gab aber auch ein arabisches Abendland. Es begann westlich von Ägypten und ging über ganz Nordafrika bis nach Al-Andalus, dem damals arabischen Teil Spaniens. Hier entstanden die Geschichten aus 101 Nacht", erklärt die Orientalistin.
Während die kleine Sammlung in Vergessenheit geriet, erfuhr die "große Schwester" 1704 durch den französischen Übersetzer Antoine Galland eine Wiederbelebung, die so weit ging, dass neue Geschichten hinzugedichtet wurden. Gerade die heute populärsten Helden aus diesem Zyklus - Sindbad, Aladin und Ali Baba - stammen aus dieser Zeit.
Lesereisen im Orient Mit der Entdeckung und Übersetzung durch Claudia Ott rückt nun auch die Sammlung "101 Nacht" ins Licht der Öffentlichkeit zurück - auch in der arabischen Welt: "Ich war schon zu mehreren Lese- und Vortragsreisen dort." Bei Auftritten in Deutschland schlüpft Claudia Ott gerne in die Kleidung des Orients und spielt ihr "Sehnsuchtsinstrument", die ägyptische Rohrflöte.
Welche Geschichte aus "101 Nacht" ihr am besten gefällt? "Immer wieder eine neue, weil sie so vielseitig sind. Vor allem aber mag ich die Storys mit der Automatentechnik, denn merkwürdigerweise lebt dieses Werk aus dem 13.
Jahrhundert von Robotern, Flugmaschinen und automatischen Bewegungsmeldern, die am Eingang von unterirdischen Schatzhöhlen wachen."
Auch das eingangs erwähnte Ebenholzpferd ist ein solches Wunderding, das den Königssohn übrigens wieder zurück zum Vater brachte. Zusammen mit einer schönen Frau, mit der der junge Mann glücklich bis ans Lebensende war. Schließlich haben Schahrasads Geschichten stets ein Happy End.
Das Buch: "101 Nacht" ist jetzt als limitierte Sonderausgabe im Verlag Manesse (336 Seiten, mit Faksimiles des arabischen Originals, 29,95 Euro) erhältlich. Die Originalausgabe (Einband mit Samt und Kupferfolie) kostet 49,90 Euro.
Die Übersetzerin: Dr. phil. Claudia Ott wurde 1968 in Tübingen geboren und lebt mit ihrer Familie in Niedersachsen.
Sie war nach Studien in Jerusalem, Kairo, Berlin und Tübingen wissenschaftliche Assistentin an der Universität Erlangen-Nürnberg und ist heute Lehrbeauftragte an der Universität Göttingen. Seit 2007 sitzt sie der Jury des Coburger Rückertpreises vor. Sie leitet den Martinschor Beedenbostel und ist arabische Musikerin (ägyptische Rohrflöte). Weitere Informationen unter:
www.101-nacht.de bzw.
www.tausendundeine-nacht.com