Während der Nazi-Zeit wurden die Zeugen in Konzentrationslager verschleppt. Der heute 88-jährige Bamberger Roland Raab erinnert sich an seine belastete Kindheit.
Am 29. März 1939 bekommt Auguste Raab ein knappes Schreiben vom Direktor der Bürgerschule in Komotau: "Im Auftrage des Kreisschulamtes Komotau wird Ihnen hiermit mitgeteilt, daß Ihr Sohn Roland Raab, Schüler der 2.a Klasse, bis auf weiteres vom Schulunterrichte fernzuhalten ist." Was hatte der Lausbub angestellt?
Roland verweigert hartnäckig den vorgeschriebenen "Deutschen Gruß", hebt also nicht den Arm, ruft nicht "Heil Hitler", sondern schlicht "Guten Tag". Ein schweres Vergehen. Das alarmiert auch die Gestapo, die morgens um fünf Uhr bei Familie Raab an die Tür poltert. Raabs sind bekennende Zeugen Jehovas. Sollen sich lossagen von ihrer Religion und ein vorbereitetes Papier unterschreiben. Das tun sie nicht. Auguste Raab wird verhaftet, landet im Konzentrationslager Ravensbrück. Bekommt den lila Winkel angeheftet, der sie als "Bibelforscherin" ausweist. 1944 lautet das Urteil "Tod durch Vergasung". Sie überlebt. Am 28. April 1945 befreien russische Truppen das KZ. Nach einer Odyssee gelangt Auguste Raab nach Neustadt bei Coburg. Dann nach Bamberg, wo sie 1966 an offener Tuberkulose stirbt.
Roland Raab, heute ein hellwacher 88-Jähriger, hat auf dem Wohnzimmertisch seiner Bamberger Wohnung Originaldokumente aus der damaligen Zeit ausgebreitet. Doch auch ohne diese Gedächtnisstützen erinnert er sich an seine belastete Kindheit. Und an ein Gefühl der Freiheit, sich nicht vor Hitlers Konsorten gebeugt zu haben. Das tat er auch nicht im Waisenhaus und im Erziehungsheim, in die er nach der Verhaftung der Mutter kam: "Dort war ich Nummer 157", erzählt Raab. Einheitskleidung, "grausames Essen", vorbestrafte Kriminelle als Gefährten: Der junge Roland bleibt sich treu, bleibt Zeuge Jehovas. Auch im Arbeitsdienst, in der Wehrmacht, in amerikanischer Gefangenschaft.
1946 kommt er nach Bamberg, wird Wachmann bei den Kasernen der Amerikaner, später Arbeiter in einer Brauerei und dann bis zur Rente bei Bosch. Er ist dankbar, dass er noch etliche Jahre seine Mutter Auguste bei sich haben konnte. Seinen Vater - "der ist in der Nazi-Zeit irgendwie durchgerutscht" - fand er mit Hilfe des Rote-Kreuz-Suchdienstes in Pfarrweisach wieder. Die Eltern blieben getrennt.
Roland Raabs Ehefrau, die er als evangelische Christin 1951 geheiratet hatte, stirbt 2004. Er lebt seitdem allein, fühlt sich aber nicht einsam. Denn er hat seine Gemeinschaft, die ihn trägt: 230 Zeugen Jehovas in Stadt und Landkreis Bamberg, dazu etwa 60 Kinder und Jugendliche, die noch nicht getauft sind. Regelmäßig nimmt der Senior an den Zusammenkünften der Zeugen Jehovas in der Kronacher Straße 58 teil, hört interessiert bei den Vorträgen zu und liest täglich die "Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift". Raab versteht sich als "aktiver Prediger", "Bibellehrer", dessen Glauben die dunkle Vergangenheit unbeschadet überstanden hat.
Sind Jehovas Zeugen tatsächlich christlich? Hans Markus Horst ist Leiter der Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Erzbistums Bamberg in Erlangen. In seiner täglichen Arbeit wird der promovierte Theologe immer wieder mit Anfragen zu den Zeugen Jehovas konfrontiert. Als "Sekte" bezeichnet er diese religiöse Sondergemeinschaft zwar nicht, macht aber deutliche Unterschiede zu den christlichen Kirchen aus. Unsere Zeitung sprach mit ihm.
Die Zeugen Jehovas bezeichnen sich selbst als "christliche Glaubensgemeinschaft". Wie christlich sind sie tatsächlich?Markus Horst: Konfessionskundlich gehören die Zeugen Jehovas zu den endzeitlichen Gruppen und sind im 19. Jahrhundert entstanden. Ihre wichtigsten Sonderlehren, die sie von den christlichen Kirchen deutlich unterscheiden, betreffen das Schriftverständnis, die Dreifaltigkeit, die Eschatologie, Moral, Blutfrage, Glaubenspraxis oder Feiertage.
Wie beurteilt die katholische Kirche diese Gemeinschaft?
In den Augen der Katholischen Kirche sind die Zeugen Jehovas eine religiöse Sondergemeinschaft. Eine Mitgliedschaft bei den Zeugen Jehovas und eine Mitgliedschaft in der Katholischen Kirche schließen sich gegenseitig aus. Dementsprechend gibt es kein gegenseitiges Taufanerkenntnis. Das exklusive Glaubensverständnis der Zeugen Jehovas verhindert die ökumenische Zusammenarbeit mit anderen christlichen Kirchen: "Wir sind kein Teil der Christenheit." Zeugen Jehovas glauben, dass sie allein im Besitz der christlichen Wahrheit sind. Die christlichen Kirchen gehören für sie zum "Weltreich der falschen Religion", die dem Aberglauben verfallen sind. Die Katholische und die Evangelische Kirche werden als "die Hure Babylon" bezeichnet.
Die meisten Bürger kennen Zeugen Jehovas durch ihre Missionstätigkeit an Haustüren. Wie sollte man auf solche ungebetenen Aktionen reagieren? Es ist nicht ratsam, sich als theologischer Laie auf Streitgespräche mit den Zeugen Jehovas einzulassen, da die meisten Menschen der geschulten Gesprächsführung der Zeugen nicht gewachsen sind. Man sollte klar sagen, dass man keine weiteren Besuche wünscht, weil kein Interesse besteht, sich einer anderen Glaubensgemeinschaft anzuschließen.
Aussteiger berichten von autoritären Strukturen, "Gehirnwäsche" und Indoktrination innerhalb der Gemeinschaft. Trifft das alles zu? Diese Aussteigerberichte können wir aus unserer Beratungspraxis bestätigen. Die Leitende Körperschaft führt autoritär und fordert absoluten Gehorsam von den Mitgliedern. Kritik ist nicht erwünscht.
Sittliche Verstöße oder Abtrünnigkeit werden vom Rechtskomitee gegebenenfalls mit Gemeinschaftsentzug geahndet. Soziale Kontakte zu Nicht-Zeugen werden nicht gerne gesehen. Das kann zu erheblichen Spannungen und persönlichem Leid führen, wenn es innerhalb einer Familie Mitglieder und Nicht-Mitglieder gibt. Menschen, die aussteigen riskieren, völlig allein gelassen zu werden und isoliert zu sein.
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden Zeugen Jehovas (Bibelforscher) verfolgt und viele in Konzentrationslager deportiert. Erwächst daraus eine Verpflichtung, respektvoll und tolerant mit ihnen umzugehen?Dass die Zeugen Jehovas neben Juden, politischen Gefangenen, Homosexuellen und anderen Gruppen Opfer des Nationalsozialismus geworden sind, ist zu bedauern. Dennoch darf das konfliktträchtige Potenzial dieser Gruppe deshalb nicht übersehen werden. Selbstverständlich muss aus christlicher Sicht mit jedem Menschen, gleich welcher Religionszugehörigkeit oder moralischen Verhaltens respektvoll und tolerant umgegangen werden. Dazu sind wir auch nach dem Grundgesetz verpflichtet. Im Gegensatz zu den Zeugen Jehovas hat sich die Katholische Kirche im II. Vatikanischen Konzil (1963-65) von einem exklusivistischen Religions- und Glaubensverständnis verabschiedet (siehe Konzilsdokument "Nostra Aetate"). Ebenso gehört die Religionsfreiheit zum Grundverständnis der katholischen Weltanschauung.
Zeugen Jehovas Charakteristisch für die Lehre der Zeugen Jehovas ist das wörtliche und zeitliche Verständnis apokalyptischer Texte der Bibel, vor allem der Offenbarung des Johannes. Zeugen Jehovas erwarten in naher Zukunft das "Ende der Geschichte und der Welt" in der "Schlacht von Harmagedon". Sie verkünden zwar kein Weltvernichtungsdatum mehr, glauben aber weiter, dass die gottlose Welt samt den "falschen Religionen" bald abgelöst wird. Jesus und seine Engelheere werden alle Bösen vernichten. Vor diesem Gerichtstag ist deshalb die Menschheit zu warnen. Überleben werden nur die Anhänger der Zeugen Jehovas auf einer gereinigten Erde, dem wiederhergestellten Paradies.
mkh