1816 war das Wetter in Mitteleuropa so miserabel, dass Schriftsteller Gestalten erfanden, die uns noch heute das Fürchten lehren: Dracula, Frankenstein...
S o viel wie heuer ist wohl selten über das Wetter geredet worden, und immer wieder ist die Vorsilbe "un-" im Spiel: Wer von Un-Wettern verschont bleibt, ärgert sich, dass der gefühlt un-unterbrochene Regen das Un-Kraut sprießen lässt und dass sich bei der Nässe im Garten vor allem das Un-Geziefer wohlfühlt. Kein Wunder also, dass in einem noch viel grausigeren Sommer als dem Sommer 2016 zwei Un-Geheuer das Licht der Welt erblickt haben.
1816 ging als "Jahr ohne Sommer" nicht nur in die Klimahistorie ein. Das Jahr hat Gesellschaft und Politik nachhaltig verändert, und es hat Kulturgeschichte geschrieben. Dracula und Frankenstein traten vor 200 Jahren aus dem Dunkel der Nacht ins Licht der feinen Literatur.
Was im Sommer 1816 im kalten Zwielicht des Genfer Sees ersonnen wurde, ist bis heute die Vorlage für fast alles, was zwischen Buchdeckeln und auf der Leinwand dem Betrachter kalte Schauer über den Rücken jagt.
1816 versammelte sich in der Villa Diodati am Genfer See in der Schweiz eine illustre britische Gesellschaft zur Sommerfrische: die Schriftstellerin Mary Godwin (bekannt als Mary Shelley), Percy Bysshe Shelley, Marys späterer Ehemann, der Dichter Lord George Gordon Byron mit seiner "Ex" Claire Clairmont (Marys Halbschwester) sowie der Arzt und Schriftsteller John Polidori. Sie diskutierten über Gott und die Welt und konsumierten Opium, was aber nicht der einzige Grund dafür war, dass ihre Phantasie immer düsterer wurde.
Ein gutes Jahr zuvor, im April 1815, war der Vulkan Tambora auf der anderen Seite der Erdkugel explodiert.
Der Ausbruch gilt als einer der stärksten in geschichtlicher Zeit, pulverisierte einen 1500 Meter hohen Berg und blies Unmengen an Staub in die Atmosphäre. Die feinen Partikel verteilten sich mit der Höhenströmung über die ganze Welt und führten zu farbenprächtigen Sonnenuntergängen, die in Europa zahlreiche Maler inspirierten.
Zwölf Monate nach dem Ausbruch wurden die Farben immer düster, denn der Schleier in der Luft dämpfte das Sonnenlicht; vor allem in Mitteleuropa blieben die Temperaturen weit unterdurchschnittlich, der Winter hielt sich lang, der Frühling fand nicht statt, und der Sommer fiel ins Wasser.
Auch am Genfer See waren die eigentlich warmen Monate kalt und windig, tagelang regnete es wie aus Kübeln, was den literarischen Zirkel dazu zwang, auf die geliebten Spaziergänge zu verzichten. Die Dichter blieben im Haus, und ihre Gedanken passten sich dem Wetter draußen an.
Sie erweckten die Gestalten aus dem Schattenreich zu literarischem Leben.
Dracula und Frankenstein sind bis heute der Inbegriff des Unheimlichen geblieben; zwar bedienen sich die moderne Literatur und erstrecht der Film des 21. Jahrhunderts weitaus drastischerer Mittel der Darstellung als die Protagonisten des kalten Schauers am Genfer See; im Grunde sind die Geschichten aber die gleichen geblieben. Sie spielen mit der Urangst des Menschen vor dem Tod, führen den Leser in das Schattenreich, das als Unterwelt schon in der Antike zittern ließ und als biblische Hölle bis in die Neuzeit.
Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts sah es so aus, als könnte die Wissenschaft die Grenze zwischen Leben und Tod überwinden. Luigi Galvani experimentierte mit Stromschlägen an Körperteilen.
Die Beobachtung, dass ein - mausetoter - Froschschenkel zu zucken beginnt, wenn der Strom durch das Gewebe fließt, löste eine Revolution aus; nicht nur wissenschaftlich, sondern auch philosophisch: Was genau ist das Leben? Wo sitzen Seele und Geist? Kann man Tote ins Leben zurückholen? Was würde sie wohl aus der Unterwelt berichten?
Derlei Spekulationen beschäftigten den literarischen Zirkel in der Düsternis des Sommers 1816 am Genfer See. Mary Godwin Shelley formte aus den wissenschaftlichen Fakten und spekulativen Elementen die vielleicht bekannteste Horror-Gestalt überhaupt: Frankenstein, das heißt eigentlich richtig: Frankensteins Kreatur.
Der Roman "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" erschien 1818.
Protagonist ist der junge Schweizer Forscher Victor Frankenstein, der an der Universität Ingolstadt (!), Vorläufer der heutigen Julius Maximilians Universität München, mit der neuen Wissenschaft der Elektrizität in Berührung kommt. Begeistert von der Technik, beschließt er, aus Leichenteilen ein neues Lebewesen zu schaffen.
Das Experiment gelingt, doch Frankensteins "Kind", das nie einen Namen bekommt, erfüllt nicht nur seinen Schöpfer mit Schrecken. Die Kreatur ist weder gut noch böse, als Frankenstein sie zum Leben erweckt, aber sie stößt überall auf Ablehnung, weil sie hässlich ist. Im Original erinnert die Beschreibung des naiven Monsters an die Gletschermumie Ötzi.
Die Kreatur wendet sich gegen ihren Schöpfer Frankenstein, der für Shelley das eigentliche Monster ist, weil er sein Kind verstößt; es kommt zur Katastrophe.
Interessant ist, dass im gleichen Jahr am gleichen Ort der erste literarische Vampir das Beißen lernte, lange vor Bram Stokers berühmtem Dracula (1897). Die Kurzgeschichte "The Vampyre" wurde 1816 am Genfer See von John Polidori verfasst und später fälschlich unter anderem Lord Byron zugeschrieben.
Die beiden Geschichten begründeten eine ganze literarische Gattung und inspirierten später auch das neue Medium Film, das das Spiel mit Licht und Schatten liebte ("Metropolis", "Nosferatu") und bis heute liebt.
Die Gestalten Shelleys und Polidoris haben sich durch die Leinwand-Präsenz verselbstständigt: Wer Frankenstein hört, sieht unwillkürlich Boris Karloff vor sich, und Dracula ist dank Christopher Lee unsterblich geworden - und mit beiden ist es das "Jahr ohne Sommer" am Genfer See. Sollte der Sommer 2016 gruselig bleiben, hat das vielleicht auch eine gute Seite. Wer weiß, was heuer den kreativen Köpfen entspringt...